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Sozialprojekt Sozialprojekt: Arbeitslose singen mit Freude im Chor

04.05.2010, 07:09
Unter der Leitung von Dr. Michael Reuter proben die Mitglieder vom Arbeitslosenchor «La Bohéme» Leipzig (FOTO: DPA)
Unter der Leitung von Dr. Michael Reuter proben die Mitglieder vom Arbeitslosenchor «La Bohéme» Leipzig (FOTO: DPA) dpa-Zentralbild

Leipzig/dpa. - Die Chorprobe beginnt mit einem tiefen Seufzer.Den will Michael Reuter, musikalischer Leiter des «Chor La Bohème» andiesem Vormittag als erstes von den 30 Sängerinnen und Sängern hören­ allerdings nur zur Lockerung der Stimme. Die meisten Chor-Mitglieder sind arbeitslos, ihr Alltag ist oft trist. Bei der Probeim Begegnungszentrum Wiederitzsch im Leipziger Norden aber spiegeltin den Gesichtern vor allem Freude­ zumindest für 90 Minuten. MitEifer proben die Sänger zurzeit für einen Auftritt auf demÖkumenischen Kirchentag am 14. Mai in München. Entstanden aus einemProjekt, ist der «Chor La Bohème» mittlerweile ein eigener Verein undfür viele mehr als nur ein Lichtblick in Tristesse der Langzeit-Arbeitslosigkeit.

Vorne rechts in dem Halbkreis aus Stühlen sitzt die Alt-StimmeIsabella Wächter. Die 51-jährige Maschinenbau-Ingenieurin hat seit 20Jahren keine feste Arbeit mehr, nur ab und zu verdient sie beiGelegenheitsjobs etwas Geld. «Man muss sich hier nicht pausenloserklären», begründet Wächter, warum sie sich in dem Chor so wohlfühlt. Es singen zwar auch Rentner im Chor, aber die meistenMitglieder sind arbeitslos. Das schaffe eine Gruppenidentität, sagtWächter.

In den Proben jeweils dienstags und donnerstags am Vormittagsingen die Chorsänger unter anderem alte Volkslieder oder Gospels.«Ich bin der Spaßmacher hier», sagt Chorleiter Michael Reuter, derbis zu seiner Pensionierung im vergangenen Jahr an der Hochschule fürMusik und Theater in Leipzig das Fach Chorleitung unterrichtete.Zumindest für eineinhalb Stunden wolle er die Sänger in eine bessereStimmung versetzen.

Zweimal in der Woche zur Chorprobe zu gehen, bedeutet für vieleLangzeitarbeitslose wenigstens zweimal einen Fixpunkt in ihrem Alltagzu haben. Der Vormittag ist dann strukturiert, für viele eineungewohnte Situation. Untereinander haben die Sänger schon sozialeKontakte aufgebaut. Man verabredet sich, trifft sich auch außerhalbder Chorproben.

Für manche bedeutet der Arbeitslosen-Chor aber noch viel mehr.«Der Chor ist mein Lebensretter», sagt Pjotr Selend. Mit Mitte 50 undohne Aussicht, jemals wieder eine Arbeit zu finden, «schienen mir dieS-Bahn-Gleise in Leipzig-Gohlis eine Alternative zu sein», erzähltSelend. «Ich habe mich wie Abfall gefühlt. Denn gerade bei Männernstiftet Arbeit Identität.» Depressiv und von Selbstmordgedankengeplagt, entdeckte er dann ein Plakat, das auf den Arbeitslosen-Chorhinwies. Zunächst war der «Chor La Bohème» ein auf sechs Monateangelegtes Projekt auf Initiative des Leipziger Chorverbandes inZusammenarbeit mit der Aktion Mensch.

Heute ist Selend einer von sieben Männern, die zur Chorprobegekommen sind. «Hier war ich vom ersten Augenblick an in einemsozialen Netz.» Der Chor sei für ihn wie ein Arbeitsplatz: «Ich musspünktlich sein und Qualität abliefern ­ und ich habe das Gefühl, dassich gebraucht werde.» Selbstmordgedanken hat er nicht mehr, dasSingen im Chor hat ihn verändert. «Ich würde sogar für null Euroarbeiten», sagt Selend. Er habe erkannt, wie wichtig es ist, eineAufgabe zu haben.

Auf dem Ökumenischen Kirchentag in München tritt der Chor beieiner Podiumsdiskussion zum Thema «Hoffnung bewahren ­ Zu einerveränderten Arbeitskultur» auf. Einige Sänger, die sich im Augustvergangenen Jahres zum Start des Projekts dem Arbeitslosen-Chorangeschlossen haben, sind dann nicht mehr dabei. Sie haben vormittagskeine Zeit mehr zur Probe zu kommen, denn sie haben Arbeit gefunden.