Soziales Soziales: Zahl der «Straßenkinder» schwer zu erfassen
Leipzig/München/dpa. - Die Zahl der auf Deutschlands Straßen lebenden Jugendlichen lässt sich nach Expertenmeinung nur schwer erfassen. «Auf die immer wieder gestellte Frage, wie viele Straßenkinder es in Deutschland gibt, kann man keine genaue Antwort geben», sagte Hanna Permien vom Deutschen Jugendinstitut in München in einem dpa-Gespräch. Grund sei die schwierige Definition des Begriffs «Straßenkind»: Nicht alle von ihnen seien obdachlos, viele pendelten regelrecht zwischen Elternhaus, Jugendhilfeeinrichtungen und Straße.
Die oft zitierte Hochrechnung von rund 7000 Straßenkindern in Deutschland basiere auf Szeneschätzungen aus neun Großstädten und speziellen Auswertungen aus der Vermisstenstatistik. Das sei jedoch nur der «harte Kern». Nicht alle vermissten Jugendlichen würden auch erfasst, sagte Permien, die bis 1997 an einem Forschungsprojekt des Bundesfamilienministeriums zu der Problematik beteiligt war.
«Das "Straßenkind", wie wir es aus Lateinamerika kennen, gibt es in Deutschland nicht», sagte die Diplompsychologin. «Das sind in Deutschland keine Kinder, sondern meist Jugendliche von etwa 14 Jahren aufwärts sowie junge Erwachsene.» Kennzeichnend für diese Jugendlichen sei manchmal eine abrupte Flucht aus ihren bisherigen Lebenszusammenhängen, öfter aber eine schleichende Hinwendung zur Straße. Vorstadien für eine so genannte Straßenkarriere ließen sich auch schon bei Kindern im Alter von 8 bis 11 Jahren erkennen. So kann häufiges Schuleschwänzen Hinweis auf ein späteres Leben auf der Straße sein.
Gründe sind häufig Gewalt in den Familien, Trennungen und Suchtprobleme der Eltern oder sexueller Missbrauch. Armut werde zwar immer wieder als Ursache genannt, sie sei aber nie alleiniger Hintergrund. «Diese Jugendlichen gehen nicht aus Spaß auf die Straße, sondern aus Mangel an guten Alternativen. Sie kommen meist aus belasteten, lieblosen Elternhäusern», betonte die Wissenschaftlerin. So sei es nicht verwunderlich, dass Straßenkinder manchmal auch aus reichen Elternhäusern stammen. Hier spiele Leistungsdruck oft eine Rolle.
Vor allem Großstädte ab einer bestimmten Einwohnerzahl ziehen Straßenkinder an. «Hier finden sie Gleichgesinnte, aber auch bessere Hilfsangebote - etwa Anlaufstellen, in denen sie übernachten, etwas essen und sich beraten lassen können, denn viele suchen einen Ausstieg aus dem Straßenleben», sagte die Wissenschaftlerin. In der City fallen Straßenkinder heute kaum noch ins Auge, da sie von zentralen öffentlichen Plätzen und Bahnhöfen vertrieben wurden. «Bahnhöfe sind heute Glitzerwelten, da finden die Jugendlichen keinen Platz mehr.»
Nach Schätzungen von Wissenschaftlern ist rund ein Drittel der Straßenkinder weiblich. Die jungen Frauen finden aber eher den Ausstieg aus der Szene, so dass vor allem junge Männer von «Straßenkindern» zu erwachsenen Obdachlosen werden.