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Porträt Die Zahnärztin aus Hoym legt Bohrer und Dentalhaken beiseite

Sabine Schnierer geht in den Ruhestand und hinterlässt in ihrem Heimatort Hoym zahlreiche Spuren.

Von Regine Lotzmann 22.06.2021, 10:00
Sabine Schnierer geht in den Ruhestand und ist schon voller Pläne. Familie, Freunde, Garten gehören dazu.
Sabine Schnierer geht in den Ruhestand und ist schon voller Pläne. Familie, Freunde, Garten gehören dazu. Foto: Frank Gehrmann

Hoym - 1978 war sie mit 23 Jahren wohl eine der jüngsten Zahnärztinnen Deutschlands. Nun geht Sabine Schnierer in den Ruhestand. Ihre Praxis in Hoym hat sie schon vor drei Jahren an ihre Tochter Wenke Ließmann übergeben und sie dort noch stundenweise unterstützt. Doch nun legt die Medizinerin Bohrer und Dentalhaken endgültig beiseite und schaut auf ein unwahrscheinlich erfolgreiches Berufsleben zurück.

Aufgewachsen im benachbarten Frose, legte sie ihr Abitur am heutigen Stephaneum ab und studierte an der Leipziger Universität Stomatologie. Obwohl sie während des Studiums geheiratet und zwei Kinder bekommen hatte, zog sie ihre Ausbildung geradlinig durch. Ebenso die anschließende Facharztausbildung in Aschersleben. „Das war damals verpflichtend, um eine eigene Praxis führen zu dürfen.“ Als ihre Nachbarin nach bestandener Prüfung fragte, was denn nun komme, antwortete Sabine Schnierer ganz spontan: „Noch ein Kind und vielleicht der Doktor-Titel!“ Und ja, beides habe sie realisiert, erzählt sie lachend.

Der Geschichte auf den Grund gehen

Ihre dritte Tochter Wenke ist später in ihre Fußstapfen getreten. Und mit ihrer Doktorarbeit hat Sabine Schnierer ein Stück Hoymer Geschichte aufgearbeitet, denn dort hatte sie inzwischen eine Praxis übernommen. Schnierer widmete sich in ihrer Dissertation, die später unter dem Titel „Verwahrt, verlegt, vergessen“ auch als Buch veröffentlicht wurde, der Medizinhistorie und erforschte die lange verschwiegenen und tabuisierten Geschehnisse in der ehemaligen Anhaltischen Landessiechen- und Blödenanstalt in den Jahren zwischen 1933 und 1945. Einer Zeit zwischen Zwangssterilisation und Euthanasie, dem gezielt vorangetriebenen Mord an psychisch kranken Patienten.

Die Zahnärztin wühlte sich in einem alten Kellergewölbe durch vergessene Akten. „Viele Seiten waren herausgerissen, es gab Lose-Blatt-Sammlungen, andere Mappen waren angesengt...., als ob sie jemand hatte verbrennen wollen“, erzählt sie und berichtet auch von Widerständen. Denn das, was sie dort und auch in den anderen Anstalten, die sich an den Krankenmorden beteiligt hatten, entdeckte, machte ihr eine Gänsehaut. „Es hat eine Kinderstation gegeben, von den Kleinen hat keines überlebt“, nennt sie ein Beispiel oder berichtet von ungeöffneten Patientenbriefen, in denen die Menschen flehten, nach Hause zu dürfen. Auch sie wurden umgebracht.

Holpriger Start in die Selbständigkeit

Doch die Nachforschungen mussten ruhen, als die Wende und mit ihr neue Strukturen im Gesundheitswesen kamen. Die Ärztin machte sich selbstständig, suchte eine größere Praxis und fand sie im heutigen Hoymer Ärztehaus. Es war ein holpriger Start. Doch sie hielt durch und stellte später auch ihre Doktorarbeit fertig. Inzwischen waren viele Einrichtungen dabei, ihre Geschichte selbst aufzuarbeiten und sie konnte das von ihr Entdeckte besser einordnen. Weiter ging es auch im medizinischen Bereich, wo sie sich der ganzheitlichen und später auch der Umwelt-Zahnmedizin widmete, einer interdisziplinären Spezialisierung auf Krankheiten der Mundhöhle und deren Auswirkungen auf den ganzen Körper.

Dass sie nun ihren Patienten und ihren Mitarbeitern - sie hat zahlreiche Helferinnen ausgebildet - fehlen wird, das betonten Freunde, Familie und Kollegen bei einer kleinen Überraschungs-Abschlussparty. Einen dort vorgetragenen Wunsch einer Mitarbeiterin wolle sie nun befolgen. Sie solle mehr lieben, mehr lachen und wieder durchs Leben tanzen. Sabine Schnierer möchte deshalb die freie Zeit für ihre Familie und die sieben Enkelkinder nutzen, sich mit Freunden treffen und die Arbeit in ihrem Garten genießen. Und zu ihrer silbernen Promotion will sie ihrem Ort einen Baum spenden und ihn den Opfern der Euthanasie widmen. (mz)