1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Sachsen: Sachsen: Gans nah dran

Sachsen Sachsen: Gans nah dran

Von IRIS STEIN 02.07.2010, 09:18

Halle/MZ. - Haben Sie gewusst, dass alle Gänse blaue Augen haben?" Das haben die Besucher nicht gewusst, und wer sich traut, kann jetzt nah genug an die Tiere heran gehen, um es nachzuprüfen. Die Prüfung erfordert ein bisschen Mut, denn Gänse, das sind doch die Tiere, die zischend und flügelschlagend auf Menschen losgehen, die ihnen zu nahe kommen?

Silvia Birk lacht und versichert, dass es heute einige Vorurteile wie dieses zu Grabe zu tragen gilt. Ihre Gänse jedenfalls gehen auf niemanden los, sondern vorneweg, denn jetzt wird gewandert. Die Gänsemagd von Schlettau, das im Saalekreis liegt und zu Löbejün gehört, zieht mit ihrer schnatternden Schar und jedem, der sich dafür interessiert, über Straße und Feldweg zum Flüsschen Fuhne. Dort findet das Federvieh Erquickung im Wasser, der Wanderer Erholung beim Picknick und alle gemeinsam haben einen höchst vergnüglichen Ausflug hinter sich, bei dem die menschliche Spezies auch noch jede Menge lernen konnte.

Gänsewanderungen - auf die Idee, das anzubieten, muss man erstmal kommen. Silvia Birk findet es allerdings gar nicht so verwunderlich. Sie und ihre Familie haben sich vor Jahren entschieden, das Stadt- gegen das Dorfleben zu tauschen und zwar nach dem Motto "Wenn schon, denn schon". Also ging es von Berlin ins beschauliche Schlettau, aus der Stadtwohnung ins alte Gutshaus. Das ist auf den ersten Blick eine Lebensaufgabe und bleibt es auch auf den zweiten, aber dafür hat der Hof einen ganz besonderen Charme. Den machen die alten Gemäuer aus und das quirlige Durcheinander, denn zu den elf Gänsen gesellen sich zur Zeit ein Wurf Schäferhunde, durch die Gegend stolpernder Katzennachwuchs, Hühner, Gössel, Enten und vor allem, wenn Gänsewanderungen angesetzt sind, viele Kinder.

Dabei ist der barfüßige Ausflug nicht nur für kleine, sondern auch für große Leute ein Gewinn. "Wann bin ich eigentlich zum letzten Mal barfuß gelaufen?", überlegt die 62-jährige Adelheid Schulze, die sich "wie eine Generation zurück oder eigentlich sogar wie ein Kind" fühlt, wenn es durch die Felder geht. Die Landschaftsarchitektin ist begeistert von der Bauernhof-atmosphäre, spricht von "Streicheleinheiten für die Seele" und einem Angebot, "das begeistern kann". Genau das hatte die 43-jährige Erzieherin Silvia Birk im Sinn, als sie ihre Gans-nah-Wanderungen entwickelte. "Irgendetwas musste ich schließlich tun", sagt die zweifache Mutter, "und es sollte schon etwas sein, was mit dem Landleben und den Möglichkeiten hier auf dem Dorf zu tun hat."

Vor rund einem Jahr hat sie sich die Gänse zugelegt und "etwas mit denen zu unternehmen, das schien mir passend", erzählt sie. Dabei gibt es nicht nur die Wanderungen. So besucht sie mit ihren anderen Tieren beispielsweise Altenheime, würde genauso gern auch in Kindergärten gehen und ist als Gänsemagd auf Bauernmärkten zu finden. In die anfängliche Skepsis der Dorfbewohner mischt sich inzwischen manchmal auch ein bisschen Freude, beobachtet die Frau mit dem langen Zopf, die auch eine Spielleiterausbildung absolviert hat. Die Schlettauer spüren, dass sie öffentlich wahrgenommen wird und damit auch ihr Dorf als etwas Besonderes erscheint.

"Gans nah" heißt das Unternehmen, mit dem sich Silvia Birk zum 1. Mai dieses Jahres sogar selbständig machte, nachdem ein paar Wanderungen, die sie im vergangenen Jahr nebenberuflich anbot, gut ankamen. Und schon gibt es die ersten Wiederholungstäter, denn wer einmal mit ihr und ihren Gänsen unterwegs war, der kann es offenbar nicht mehr lassen. "Wir wollen das unbedingt noch mal mit unseren Enkeln machen", unterstreicht Rolf Wejnar. Der 68-Jährige hatte mit dem Handy ein kleines Filmchen gedreht, als er mit seiner Frau und Freunden unterwegs war, und seiner Enkelin Lucie gezeigt - die war begeistert. Da ist es auch egal, dass es hinter den Gänsen "ganz schön kleckert", wie der Hallenser sagt, man muss halt aufpassen, wo man hintritt. Und das Barfußlaufen ist ja schließlich kein Muss.

Auch den Gänsen bei einer kurzen Rast Weizen auf der Handfläche anzubieten ist kein Muss, aber etwas, was viele gern ausprobieren. "Wer Gänse hütet, kann zugleich Autorität üben", macht Silvia Birk aufmerksam, auch wenn sie beim Austeilen der Hütestöcke scherzhaft verkündet, dass diese zum Hüten und nicht zum Hauen sind. Sie kann sich durchaus vorstellen, Betriebsausflüge mit ihren Tieren zu organisieren oder sogar Coaching-Wochenenden anzubieten, "damit Teilnehmer Grenzerfahrungen und Führungsqualitäten erleben". Sie wäre einverstanden, als Gänsemagd für Film und Fernsehen gebucht zu werden und betrachtet doch als das Wichtigste bei ihrem Angebot die Ruhe, die Natur, das ursprüngliche Erleben, das mit den Gänsewanderungen einhergeht.

Genau das wollte Undine Anders (Name geändert) ihren Gästen nahe bringen, die sie zu einer ungewöhnlichen Geburtstagstour einlud. "Ich hatte von den Wanderungen gehört und meinte, das wäre doch einmal die etwas andere Feier", erzählt die 56-Jährige, die bei einer Behörde arbeitet. Am meisten erstaunt hat sie, wie weich und warm die Porphyrsteine der Dorfstraße waren. "Wann läuft man auf solch einem Untergrund in der heutigen Zeit schon mal barfuß?", fragt sie.

Und was kann der Mensch sonst noch lernen? Das Gänse ganz schön fix sein können, weiß er meist, dass sie immerhin eine gute halbe Stunde ausdauernd auf dem Feldweg Richtung Wasser streben, vielleicht schon nicht mehr so genau. Auch, dass sie ohne großes Geschrei in die Fuhne abtauchen und sich anschließend leise schnatternd im Schatten lagern und intensiv putzen, hat er vielleicht noch nie so nah beobachtet. Und staunt dann doch, wie ähnlich die Gänsegesellschaft am Flüsschen der Picknickgesellschaft nebenan auf der Wiese ist.

Offene Gänsewanderung für jedermann am 5. und 22. Juli, jeweils 16 bis 18 Uhr, am 31. Juli 9.30 Uhr bis 11.30 Uhr, Erwachsene 5 Euro, Kinder 3 Euro, Treffpunkt Schlettau / Dorfteich, Anmeldung erwünscht Tel. 034603 - 77197