Wer tötete in Halle Karl Meseberg? Wer tötete in Halle Karl Meseberg?: Jahrhundertjagd auf einen Mörder

Es sind zwei größere und sehr frische Blutlachen, die ganz am Anfang eines Geschichtskrimis stehen, der sich von der Hafenbrücke an den halleschen Pulverweiden aus über ein ganzes Jahrhundert erstrecken wird.
Es ist der Morgen des 14. März 1919, als Passanten das Blut etwa 20 Meter vom rechten Saaleufer entfernt entdecken. Die herbeigerufene Polizei findet zudem „Teilchen von Hirnmasse und kurzen dunkelblonden Haaren“, wie die „Saale-Zeitung“ berichtet.
Es müsse, heißt es vorsichtig, „mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass ein verwundeter Mensch während der Nacht über das Geländer in die Saale geworfen worden“ sei. Die ist hier schmal, das Ufer von Gebüsch überwuchert. Es wird nach einem Opfer gesucht. Gefunden wird niemand.
Auch nicht der Obermatrose Karl Meseberg, der in den bewegten Monaten seit dem Ende von Krieg und Kaiserreich und dem Beginn der Novemberrevolution in Deutschland als Chef der revolutionären Matrosenkompanie zu einem Machtfaktor in Mitteldeutschland geworden ist.
Meseberg, in Halle geboren und vor seiner Einberufung zum Kriegsdienst auf dem Linienschiff „Westfalen“ als Former in der Maschinenfabrik Mafa beschäftigt, gilt als Chef der von ihm gegen den Willen des Soldatenrates gegründeten Matrosenkompanie.
Der Obermatrose, so zumindest die spätere Erzählung der DDR-Geschichtsschreibung, gehörte im November 1918 zu den Organisatoren des Matrosenaufstandes in Kiel. Danach, heißt es in einer SED-Broschüre, habe er sich „auf den Weg nach Halle gemacht, um in seiner Heimatstadt für den Sieg der Revolution zu wirken“.
Karl Meseberg: Matrosenführer in Halle ermordet?
Für Meseberg, einen schmalen Mann mit spitzem Gesicht und dünnem Schnurrbart, bedeutet das vor allem, die Situation zuzuspitzen, um den „Kampf um die Vormacht in den Räten zu gewinnen“, wie er selbst sagt.
Seine Kompanie versteht der 27-jährige Kommunist als „Rote Garde aus zuverlässigen Leuten“, wie ihn die „Saale-Zeitung“ zitiert. Sie verfolgt ihr Ziel, Ruhe und Ordnung in der Stadt zu halten, indem sie militärische Gewalt androht oder auch ausübt.
Es ist Generalstreik in diesen Tagen in Mitteldeutschland. Die von Bernard Koenen und Otto Kilian geführten Revolutionäre fordern bei einer Kundgebung im Volkspark, über die das „Volksblatt“ berichtet, die „Sozialisation der Großindustrie“.
Man wolle „nicht nur die politische Macht, sondern die wirtschaftliche Macht erobern“, sagt Koenen. „Es ist nicht wichtig, ob sich Behörden den Räten unterordnen, sondern ob die Macht der Imperialisten vernichtet wird.“
Meseberg und seine Matrosen sind bereit, dafür zu schießen. Als die Reichsregierung das Landesjägerkorps nach Halle schickt, um der Blockade der Reichsbahn ein Ende zu bereiten, liefern sich die Revolutionäre Gefechte mit den Regierungstruppen, bei denen sieben Landesjäger getötet werden.
Meseberg wird dadurch zum Ziel. Einen Tag vor der Entdeckung der Blutspuren an der Hafenbahn wird der Familienvater gleich zweimal von Freikorpsleuten festgenommen. Einmal kehrt er zurück. Beim zweiten Mal nicht. Beide Male aber wird Generalmajor Georg Maercker, der Kommandeur des Landesjägerkorps, später erklären, habe es von ihm keinen Befehl gegeben, Meseberg abzuholen.
Angaben von Mesebergs Frau, nach denen einer der Soldaten, die ihren Mann mitgenommen hätten, ein silbernes „L“ am Arm getragen habe, könnten eine Beteiligung seiner Freiwilligen nicht belegen. „An dieser Stelle führen Landesjäger kein solches Zeichen.“
Karl Meseberg in Halle getötet: Leichenfund am Ufer der Saale
Fünf Tage später ist klar, weshalb die Aufklärung des Verbrechens nicht vorankommt. Karl Meseberg wird gefunden, tot am Ufer der Saale, eine Schusswunde hinter dem rechten Ohr. Schnell richtet sich der Verdacht auf zwei bestimmte Freikorpsmänner, die nach Berlin geflohen sind.
Werner Neuß, 1936 als jüngster Sohn des damaligen Stadtarchivars Erich Neuß geboren, hat sich immer für den dritten Mann interessiert, den er im Titel eines Buches, das er geschrieben hat, „Mörder, Mentor, Menschenfreund“ nennt.
Felix Huberti ist bei der vermeintlichen Verhaftung als Offizier aufgetreten - und er war ein Jugendfreund seines Vaters. Jener Felix Huberti lebt wie Erich Neuß in Halle, Erich, der Ingenieurssohn, im Viertel Giebichenstein. Felix, Sproß eines Juristen und Ur-Enkel des Lyrikers Ernst Moritz Arndt, in der Richard-Wagner-Straße. Erich ist ein Jahr jünger, Felix etwas fülliger, ein Mensch, den Neuß senior als „von gemessener Beweglichkeit, aber selbstbewusstem Auftreten“ beschreibt.
Gemeinsam spielen die Jungen Streiche, sie sind Wandervögel und entflammen mit Kriegsausbruch für die „deutsche Sache“. Felix macht sein Abitur am Stadtgymnasium und ist bei Kriegsende Sanitätsfeldwebel in Halle. Erich kommt nach Frankreich, wird verwundet und gefangen genommen. Als er zurückkehrt, hat das Jahr 1920 begonnen. Felix ist da seit ziemlich genau einem Jahr fort. Niemand weiß, wo der alte Freund sich befindet.
Außer Erich Neuß, der seinen Lebenserinnerungen viele Jahre später einen Satz anvertraut, der seinen Sohn Werner auf die Spur eines mutmaßlichen Mörders bringt, der der im süddeutschen Biberach lebende Chirurg quer durch ein ganzes Jahrhundert folgen wird.
Wo ist Felix Huberti? „Ich vermute ihn in der Person des Leibarztes von Heinrich Himmler, Felix Kersten“, vermerkt Erich Neuß. Mehr Hinweise, so sein Sohn Werner, habe es anfangs nicht gegeben. „Doch mehr Anstoß habe ich auch nicht gebraucht.“
Himmlers Leibarzt Felix Kersten: Ist er einer der Mörder von Karl Meseberg?
Denn jener Felix Kersten ist eine ebenso schillernde wie geheimnisvolle Figur. Etwas füllig und unbeweglich, aber von großem Selbstbewusstsein erfüllt, taucht er wenige Jahre nach dem Verschwinden Felix Hubertis als begnadeter Masseur in Berlin auf. Er verdient sich Meriten als gesundheitlicher Betreuer der königlichen Familie der Niederlande. Und Ende der 30er Jahre avanciert er zu einer Art Leibarzt von Heinrich Himmler.
Kersten massiert den Chef der SS nicht nur, er berät ihn auch. Dennoch schafft er es, am Ende aus der Hölle zu entkommen wie frischer Schnee: Felix Kersten, den Himmler liebevoll „meinen magischen Buddha“ nennt, taucht nach dem Ende des Dritten Reiches als finnische Version von Oskar Schindler auf.
Er rühmt sich nun, Himmler bewogen zu haben, Kontakte zur schwedischen Regierung zu knüpfen, der es so gelingt, mit der Aktion „Weiße Busse“ etwa 20.000 KZ-Häftlinge zu retten.
Ein Kapitel, das zur Heldengeschichte passt, als die Felix Kersten sein Leben am liebsten erzählt. In Werner Neuß aber war es von Anfang an das übertrieben Hymnische am Lied des nach eigenen Angaben 1898 in Estland geborenen Gutsverwaltersohnes, das ihn neugierig macht.
Werner Neuß: Ex-Hallenser recherchiert das Leben von Felix Kersten nach
„Es gab einige Bücher über ihn“, sagt Neuß, „aber ich stellte fest, dass alle voneinander abgeschrieben waren und niemand die Widersprüche sehen wollte.“
Neuß, ein Leben lang als Arzt vielbeschäftigt und im Ruhestand mit einer Schöffentätigkeit bei Gericht längst nicht ausgelastet, hatte sein Thema gefunden. „War der Busenfreund meines Vaters ein Mörder?“, fragt er sich, „ist er entkommen und hat er sich dann neu erfunden?“
Neuß beginnt eine Jagd um die halbe Welt. Er stöbert in finnischen Militärarchiven und belgischen Zeitungen, studiert Teile des Familienarchivs der Familie Kersten und er sucht in Büchern.
Die Spur führt ihn zurück ins Halle jenes blutigen März vor genau hundert Jahren, an die Hafenbahnbrücke, in jene Nacht, in der Karl Meseberg ermordet wird. Zwei der Täter - ein Feldwebel Claus und ein Fähnrich von Petersdorff - werden in Berlin gefasst, wo sie sich bei der Gardekavallerie-Division verstecken, genau der Einheit, deren Männer gerade Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet haben.
Claus und von Petersdorff werden verhaftet und in Halle vor Gericht gestellt. „Sie schoben die Schuld auf den flüchtigen Huberti und kamen mit geringen Strafen davon“, beschreibt Werner Neuß.
Der Mann aber, der sich bei Mesebergs Verhaftung „Leutnant Roth“ genannt und den Greiftrupp angeführt hatte, ist fort. Einmal noch wird er gesehen, im Hotel „Preußischer Hof“ in Berlin, wo er sich als „Felix Roth“ einträgt. „Seitdem ist dieser Mann verschwunden“, erklärt Halles OB Richard Robert Rive damals laut „Saale-Zeitung“ im Stadtparlament.
Werner Neuß ahnt, wohin. Denn kaum ist Huberti, der Jugendfreund seines Vaters, wie vom Erdboden verschluckt, taucht dieser Roth auf. Der zufällig ebenfalls „Felix“ heißt. Und nahezu im selben Moment, in dem jener Roth die Bühne wieder verlässt, erscheint 1.600 Kilometer weiter östlich ein weiterer Felix - zu deutsch der Glückliche: Felix Kersten, eigenen Angaben zufolge Sproß einer 1881 ausgewanderten brandenburgischen Familie, schließt sich seinen Memoiren zufolge einer Truppe an, die für die Unabhängigkeit Estlands von Russland kämpft.
Neuß aber hat Zweifel, nicht nur daran. Ein angeblicher Schulbesuch Kerstens nahe Hamburg sei ebensowenig zu belegen wie die Arbeit als Gutsverwalter bei Aschersleben.
Angaben, die Kersten beim finnischen Militär macht, sind nach Auskünften, die der Hallenser vom finnischen Militärarchiv bekam, sogar falsch. Kersten habe sich als Vizefeldwebel vorgestellt, um als Unteroffizier Dienst tun zu dürfen, nicht als einfacher Soldat.
Für Werner Neuß nur logisch, denn an diesem Punkt, glaubt er, habe Kersten nicht auf den Rang verzichten wollen, den sich Huberti in der Reichswehr erarbeitet hatte.
So wird Felix Kersten zum Leibarzt von Heinrich Himmler
Als im Mai 1919 Steckbriefe ausgehängt und 3 000 Mark Belohnung auf Huberti ausgesetzt werden, ist der nach Überzeugung von Werner Neuß längst in seiner neuen Rolle angekommen: Felix Huberti alias Felix Roth heißt jetzt Felix Kersten, glaubt er.
Und er macht schnell Karriere, obwohl ihn ein „schwerer Anfall von Gelenkrheumatismus“ (Kersten) monatelang ans Krankenbett fesselt. In der Klinik entdeckt er sein Talent, Krankheiten wegzumassieren. „Sie haben Gold in ihren Händen“, lobt ihn ein Arzt.
Kersten geht nach Berlin, er ist jetzt ein finnischer Staatsbürger, den niemand kennt. In der deutschen Hauptstadt übernimmt er die Praxis seines Lehrers, eines chinesischen Wundermasseurs.
Und findet sich wenig später schon als Promi-Masseur und als Leibarzt von Heinrich Himmler wieder, dem von Magenschmerzen geplagten SS-Chef, dem er so gut Linderung zu verschaffen weiß, dass der ihn zu einem seiner Vertrauten ernennt.
Eine Position, die Felix Kersten für sich auszunutzen weiß. Er handelt dem Reichsführer die Genehmigung ab, ins neutrale Schweden aussiedeln zu dürfen. Und als der Krieg ihm verloren scheint, entdeckt er sein Herz für KZ-Insassen und beginnt, als Zwischenhändler zwischen schwedischer Regierung und seinem Patienten um Leben und Freiheit Tausender zu verhandeln.
Felix Kersten hat Erfolg, so viel Erfolg sogar, dass er nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes nicht auf der Anklagebank in Nürnberg landet, sondern als Held gefeiert wird. Zeitweise darf sich Kersten sogar Hoffnungen auf den Friedensnobelpreis machen - die Regierung der Niederlande, die er hat glauben machen, er habe eine von Hitler und Himmler geplante Umsiedlung aller Niederländer nach Osten verhindert, schlägt ihn gleich viermal vor.
Dass er den höchsten Preis, den er ersehnt, dann doch nicht bekommt, tut seinem Ruf keinen Abbruch: Biografien rühmen seine Taten, Dokumentationen feiern ihn. Kersten selbst schreibt mit „Die Heilkraft der Hand“ ein Buch, das ausgerechnet seinen berühmtesten Patienten mit keinem Wort erwähnt.
Doch Zweifler an den Heldengeschichten des Mannes, der womöglich sein ganzes Leben gefälscht hat, scheitern regelmäßig, so viele Fakten sie auch vorlegen, so viele Widersprüche sie aufdecken und so viele gefälschte Dokumente sie unter den „Beweisen“ für Kerstens Rettungstaten entdecken.
Eine Erfahrung, die auch Werner Neuß macht, als er die Geschichte seiner Jahrhundertjagd aufgeschrieben hat. Kein Verlag ist interessiert. Kein Schatten soll, so der Eindruck des Forschers, auf den „Kommandeur im Finnischen Orden der Weißen Rose“ und „Großoffizier von Oranien-Nassau“ fallen.
Nur ein kleiner Verlag aus Halle, der Heimatstadt von Werner Neuß, Karl Meseberg und Felix Huberti, wagt die Veröffentlichung zum Leben eines Menschen, den Werner Neuß heute einen „geborenen Hasardeur“ nennt, dem es mehrfach gelungen sei, die ganze Welt zu täuschen.
Noch fehle zwar der letzte, der greifbare Beweis. Noch bezeichnet Kerstens Familie seine Befunde als falsch. Aber alle Indizien, so glaubt Werner Neuß, weisen in eine Richtung: Der eine Felix ist zugleich der andere. Ein Hochstapler mit blutigen Händen, der 1960 starb, angesehen, hochgeehrt und nie enttarnt. (mz)