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Vorurteile von Nichtwählern Vorurteile von Nichtwählern: "Weil das Wahlsystem zu kompliziert ist"

Von Julius Lukas 04.03.2016, 10:42

Halle (Saale) - Am 13. März wird der neue Landtag von Sachsen-Anhalt gewählt. Das elektrisiert nicht jeden. Viele Sachsen-Anhalter sind bei der Wahl 2011 zu Hause geblieben. Eine Studie hat ermittelt, warum das so war. Die Mitteldeutsche Zeitung setzt sich in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung mit Klischees und Vorurteilen von Nichtwählern auseinander.

Heute: „Ich bin doch nicht blöd und geh’ wählen, weil man nicht weiß, wofür man stimmt. Das Wahlsystem ist zu kompliziert.“

Es sollte der große Wurf werden. Im September 2014 verpasste sich der Landtag von Sachsen-Anhalt eine umfassende Reform. Eine der bedeutendsten Änderungen war dabei die Verkleinerung des eigenen Hauses. Derzeit hat das Parlament 91 Sitze. Doch da seit Jahren die Bevölkerung abnimmt, war auch eine Verschlankung der Abgeordnetenzahl geboten. Ab der kommenden Wahlperiode soll der Landtag deswegen nur noch Platz für 87 Abgeordnete haben, in der darauffolgenden gar nur noch für 83. Weniger Volksvertreter für weniger Volk.

Allerdings ist zu erwarten, dass das Parlament in Magdeburg von solchen Zahlen nach der Landtagswahl weit entfernt sein wird. Schon in der laufenden Legislatur hatte es 105 anstatt der regulären 91 Sitze. Gemessen an der Einwohnerzahl gehört der Landtag damit zu den vier größten Abgeordnetenhäusern in Deutschland. Und der neue Landtag könnte sogar noch voluminöser werden. 110 Sitze und mehr sind möglich (siehe „Zahl der Sitze wächst“).

Das liegt an den Überhang- und Ausgleichsmandaten. Sie sollen Ungleichheiten abmildern, die bei der Umwandlung von Stimmen in Parlamentssitze entstehen. Sie sind allerdings auch einer der kompliziertesten Bestandteile des Wahlsystems. Dabei sind sie gar nicht so schwer zu verstehen, wie gemeinhin gedacht wird - was darüber hinaus auch für das gesamte Wahlsystem gilt.

Mehrheits- gegen Verhältniswahl

Bei Wahlen stellt sich immer die Frage, wie aus den abgegebenen Stimmen Mandate, also Sitze im Parlament, werden. Dazu gibt es weltweit rund 250 unterschiedliche Verfahren. Die lassen sich aber auf zwei Grundformen reduzieren: Mehrheits- und Verhältniswahl. In Deutschland dominiert auf Bundes- und Landesebene die Verhältniswahl. Die Mehrheitswahl hingegen ist im angelsächsischen Raum verbreitet - also in den USA, Kanada und Großbritannien. Aber auch in Frankreich wird so abgestimmt.

Sie funktioniert nach einer einfachen Regel: Der Gewinner bekommt alles. Das Mandat gehört demjenigen, der die meisten Stimmen bekommt. Bei den Wahlen für das britische Unterhaus gewinnt so derjenige Kandidat seinen Kreis, für den die meisten Wähler gestimmt haben - auch wenn er nur eine einzige Stimme mehr bekommen hat als der Zweitplatzierte.

Dieses Wahlsystem hat den Effekt, dass Stimmen, die nicht auf den Gewinner entfallen sind, wertlos werden. Sie bleiben bei der Parlamentsbildung unberücksichtigt, was als Hauptkritikpunkt gegen die Verhältniswahl ins Feld geführt wird. Dabei hat sie auch Vorzüge. Einer der wichtigsten ist, dass stabile Mehrheiten entstehen. In Großbritannien kann meist eine Partei über die Hälfte der Sitze im Unterhaus ergattern. Das Regieren ist so deutlich leichter. Eigene Vorhaben können besser umgesetzt werden.

Dieser Vorteil der Mehrheitswahl ist es auch, der in Deutschland immer wieder die Abkehr von der Verhältniswahl in die Diskussion bringt. Bei dieser sind absolute Mehrheiten eher selten. Die Regierung entsteht zumeist als Produkt einer Koalition, in der zwangsläufig Kompromisse gemacht werden müssen. Reformvorhaben einer Partei werden so deutlich erschwert. Allerdings kann es auch als Vorteil der Verhältniswahl gesehen werden, dass sie zu Kompromissen führt.

Sie ist international das am häufigsten verwendete System. Im Gegensatz zur Mehrheitswahl spiegelt sich bei der Verhältniswahl der durch die Stimmabgabe ausgedrückte Wählerwillen genauer im Parlament. Die Mandate werden nämlich so verteilt, dass jede Partei ihrem Stimmanteil gemäß Sitze im Parlament bekommt. Wenn eine Partei von 30 Prozent der Bürger gewählt wurde, wird sie auch 30 Prozent der Sitze im Parlament erhalten.

Welchen Effekt die Verhältniswahl in der Weimarer Republik hatte und wie die Fünf-Prozent-Hürde für stabile Mehrheiten sorgt, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Dieses Prozedere hatte in der Vergangenheit aber einen zerstörerischen Effekt. Die Verhältniswahl wurde auch in der Weimarer Republik angewandt. Dort bekam jede Partei für 60.000 Stimmen einen Sitz im Reichstag, was in der Praxis zur Zersplitterung des Parlaments führte. Zeitweise gab es dort 15 Parteien. Die Regierungsbildung war immer schwer und am Ende sogar unmöglich.

Dieses Risiko der Verhältniswahl wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Sperrklausel, die auch als Fünf-Prozent-Hürde bekannt ist, verringert. Durch sie wird verhindert, dass viele kleine Parteien ins Parlament einziehen. So sollen stabile Mehrheiten entstehen. Hinzu kommt in Deutschland eine Besonderheit. Auf Bundesebene, aber auch in Sachsen-Anhalt und vielen anderen Ländern wird eine personalisierte Verhältniswahl durchgeführt.

Ungewollter Effekt

Der „personalisierte“ Teil drückt sich dabei in der ersten der zwei Stimmen aus, die jeder Wähler vergeben darf. Mit ihr wird nicht für eine Partei, sondern für einen Kandidaten gestimmt. Für jeden der 43 Wahlkreise in Sachsen-Anhalt gibt es dabei unterschiedliche Kandidaten, die zumeist einer Partei angehören. Der Kandidat, der die meisten Erststimmen in einem Wahlkreis erhält, bekommt ein Direktmandat. Er ist also auf jeden Fall in den Landtag gewählt.

Die restlichen 44 der 87 Landtagsmandate werden über die Zweitstimme verteilt. Mit ihr wählt man eine Partei. Zuvor hat die eine Liste mit Mitgliedern erstellt. Platz eins ist dabei der Spitzenkandidat. Es kommen so viele Personen von dieser Liste in den Landtag, wie die Partei Sitze errungen hat. Dabei werden allerdings die Direktmandate abgezogen. Stehen einer Partei nach Zweitstimmen also 30 Sitze im Parlament zu und hat sie 10 Direktmandate errungen, dann dürfen von der zuvor aufgestellten Liste nur noch 20 Personen in den Landtag. Durch dieses Verfahren soll gesichert werden, dass die mit der Zweitstimme vom Wähler gewünschten Verhältnisse gewahrt bleiben.

Allerdings entstehen so auch die anfangs angesprochenen Überhang- und Ausgleichsmandate. In Sachsen-Anhalt kam es 2011 nämlich zu der Situation, dass die CDU fast alle Wahlkreise gewann. Sie bekam 41 Direktmandate. Nach Zweitstimmen standen ihr aber deutlich weniger zu.

Nun kann man direkt gewählten Kandidaten ihre Sitze nicht wegnehmen. Die mehr errungenen Mandate bleiben deswegen als Überhangmandate erhalten. Da die in der Zweitstimme ausgedrückten Verhältnisse so aber durcheinander kommen, werden für die anderen Parteien Ausgleichsmandate geschaffen, wodurch der Landtag immer größer wird.

Um die Proportionen zu wahren, wird also ein ungewollter Effekt produziert. An dieser Stelle offenbart das Wahlsystem seine Schwachstellen. Jedoch waren Veränderungen immer schon möglich. Auch in der kommenden Wahlperiode wird es Diskussionen über das Wahlsystem geben. Vielleicht ja auch eine neue Reform, mit der der große Wurf dann gelingt. (mz)