Sebastian Striegel im Fadenkreuz Sebastian Striegel im Fadenkreuz: Grünen-Politiker wurde massiv bedroht

Merseburg - Um das ganze Ausmaß dieser Geschichte zu begreifen, muss man kurz vor die Tür gehen. Man verlässt also mit Sebastian Striegel dessen Bürgerbüro und tritt hinaus auf die König-Heinrich-Straße in Merseburg, unweit des Bahnhofs. Striegel deutet auf die Schaufenster rechts und links der Eingangstür, und da sieht man sie gleich: die Kameras, die den Eingang zu seinem Büro überwachen. Striegel, 35, drahtig, schwarze Turnschuhe zum braunen Sakko, holt tief Luft.
„Ich habe lange mit mir gerungen“, sagt der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Landtagsfraktion. Videoüberwachung – da muss einem Grünen doch das Herz bluten. Aber was sollte er machen, nachdem sein Bürgerbüro in den vergangenen Jahren mehrfach angegriffen worden ist? Also hat er dem Vorschlag der Polizei schließlich zugestimmt.
Sebastian Striegel ist ein herausgehobener Fall. Aber kein Einzelfall. Die Zahl von Attacken gegen Politiker verharrt auf hohem Niveau. Sachsen-Anhalts Landeskriminalamt (LKA) zählte im vorigen Jahr 31 Angriffe auf Wahlkreisbüros, soviel wie im Jahr davor. Die Zahl der Drohungen und Beleidigungen gegen Politiker und andere Amtsträger ist 2016 zwar um 15 Prozent zurückgegangen. Doch die Dunkelziffer sei hoch, sagt LKA-Sprecher Andreas von Koß. Meist ergießt der Hass sich kübelweise im Internet. „Aber wir können nicht überall im Internet sein.“
Die Attacken sparen kein politisches Lager aus. Am stärksten betroffen von Angriffen auf Wahlkreisbüros war laut LKA im vorigen Jahr erstmals die AfD – als hätten ihre Gegner nur darauf gewartet, dass die vor einem Jahr in den Landtag gewählten Rechtspopulisten endlich ihre Büros eröffnen. Im Juli war der Stendaler Abgeordnete Ulrich Siegmund betroffen, zwei Monate später seine Kollegin Sarah Sauermann in Bernburg (siehe Interview rechts); in beiden Fällen wurden Scheiben eingeworfen. Den Dessauer AfD-Abgeordnete Andreas Mrosek traf es mehrfach: Unbekannte versuchten sein Auto aufzubrechen, beschädigten an seinem Wahlkreisbüro die Klingel und beschmierten die Fassade.
Grünen-Politiker Sebastian Striegel: „Wenn ich so etwas lese, geht sofort mein Puls hoch“
Zu den am häufigsten von Drohungen und Beleidigungen betroffenen Landespolitikern aber zählt nach Auskunft des Landeskriminalamtes – Sebastian Striegel.
Der Grüne sitzt in seinem Büro, grüne Couchgarnitur, ein flacher Tisch. Er klickt sich durch seinen Laptop, auf der Suche nach Beispielen. Einer beschimpft ihn als „krakeeler der volksfeindlichen asylantenindustrie“. Andere drohen offen: „Der Striegel müsste brennen das Stück scheiße“ oder „Den nächsten Böller stecken wir dir in deine Schnauze, da kann man wenigstens nichts mehr kaputtmachen ! Du Schwein bist jetzt mit auf der Liste !“(Schreibweisen im Original).
Sebastian Striegel hat das bisher ganz gut wegstecken können. Er hat seine Erfahrungen mit Bedrohungen und Beleidigungen. Vor seiner Wahl in den Landtag 2011 hat er jahrelang für den Verein „Miteinander“ gearbeitet, der die rechtsextreme Szene beobachtet. „Da habe ich mir eine gewisse Grundvorsicht angeeignet.“ Und ein dickes Fell. Pöbeleien und Hass-Mails leitet er an die Polizei weiter. „Man darf denen das nicht durchgehen lassen“, sagt er, „man muss ein Stoppzeichen setzen.“
Aber dann passierte die Sache mit seiner Adresse. Er klickt sich weiter durch den Laptop, erst letzte Woche war da wieder so ein Eintrag: „Sag mal hansi, ... stimmt doch noch, oder“ Wo in diesem Zitat „…“ eingefügt ist, steht im Original Sebastian Striegels Privatadresse. „Wenn ich so etwas lese, geht sofort mein Puls hoch.“
Im vorigen Jahr ist Striegels private Wohnanschrift im Internet öffentlich gemacht worden. Der Grüne hält einen bekannten Rechtsextremisten aus Halle für den Urheber. „Ich vermute, er ist mir mal heimlich gefolgt.“ Seitdem taucht die Adresse immer mal wieder im Netz auf. Die Botschaft ist klar: Da wohnt der Feind. Und er kann jederzeit Besuch bekommen. Ein Abend im vergangenen Jahr, der Rechtsextremist fängt Sebastian Striegel vor dessen Wohnung ab und beschimpft ihn. Es geht um den Unfall im vorigen Jahr bei Bernburg, bei dem Striegel zunächst Fahrerflucht begangen hatte und erst später zur Unfallstelle zurückgekehrt war.
Innenexperte der Grünen Sebastian Striegel: „Meine Familie hat sich das nicht ausgesucht“
Sebastian Striegel ist ein lockerer Typ, aber wenn er von dem Angriff auf seine Privatsphäre berichtet, dann ist alle Lockerheit weg. Er sitzt angespannt in seinem grünen Sessel, seine Körperhaltung verkrampft, die Stimme gepresst. Jetzt spricht nicht mehr nur der Politiker. Sondern auch der Familienvater, der verheiratet ist und zwei kleine Kinder hat. „Ich habe mich bewusst entschieden, in die Politik zu gehen. Dazu gehört, auch viel Hässliches auszuhalten. Meine Familie aber hat sich das nicht ausgesucht.“
Die Veröffentlichung seiner Adresse bringt Striegel an eine Grenze. Herbst vergangenen Jahres, kurz nach der unangenehmen Begegnung vor seiner Wohnung: Der Abgeordnete nimmt vier Wochen Elternzeit, sie fahren nach Israel. Es ist ein Abstand, der Sebastian Striegel wie gerufen kommt. Zeit zum Runterkommen, zum Nachdenken. Kann er das aushalten? Ist vielleicht alles zu viel? „Ich war an dem Punkt, an dem ich ernsthaft überlegt habe, alles hinzuschmeißen.“
Er hat sich dann doch anders entschieden. „Sonst hätten die doch Erfolg gehabt“, sagt er. Gespräche mit Freunden fangen ihn auf.
Nach all den Bedrohungen und Angriffen gelten für Sebastian Striegel mittlerweile Schutzmaßnahmen des Landeskriminalamtes. Was das im Detail heißt, dazu äußern sich weder er noch die Behörde. „Ich bin mir bewusst“, sagt Striegel, „dass ich aus einer sehr privilegierten Situation heraus über diese Bedrohungen rede.“ Wer nicht in der Politik ist, hat dieses Privileg nicht. Sein öffentliches Amt stellt ihn erst ins Schaufenster. Aber es schützt ihn auch.
Sebastian Striegel: „Ich wollte ein offenes Haus, einen Ort lokaler Demokratie“
Seine Gegner suchen sich andere Opfer. Voriges Jahr, 6. September, ein Dienstag. Gegen 10.15 Uhr betritt ein älterer Mann Striegels Merseburger Büro. Er fängt an zu pöbeln: „Ist er denn da oder ist er schon verknackt worden?“ Offenbar spielt er auf Striegels Unfall an, er sagt, er sei froh, dass dem Politiker das passiert sei. Striegel ist nicht da, seine Mitarbeiterin fordert den Mann auf zu gehen. Der dreht sich um, geht zur Tür. Dann kehrt er noch einmal zurück und schlägt der Frau unvermittelt ins Gesicht.
Das Amtsgericht Merseburg hat das Verfahren gegen den Mann eingestellt - gegen eine Geldauflage von 200 Euro. Doch der Angriff wirkt nach. „Bisher war die Tür hier immer offen“, sagt Striegel. Jetzt ist sie zu, wenn jemand alleine im Büro ist. Das ist nicht das, was Sebastian Striegel sich vorgestellt hat, als er das Büro 2011 eröffnet hat. „Ich wollte kein anonymes Büro in irgendeinem Hochhaus“, sagt er, „ich wollte ein offenes Haus, einen Ort lokaler Demokratie.“
Das, was das Schild „Grün Lokal“ über der Eingangstür ausdrückt, und der große Tisch mitten im Raum, auf dem Kaffeebecher und zwei Teller mit selbstgebackenem Kuchen stehen. Ein Raum für Vereine und Flüchtlingsinitiativen. Für Leute, die kostenlos ins Netz wollen; deshalb bietet der Grüne freies WLAN. Geflüchtete, Schüler und Arbeitslose stehen dann mit ihren Smartphones vor dem Laden.
Sie alle kommen auch jetzt noch. Doch Sebastian Striegel und seine Leute sind vorsichtiger geworden. Vor Terminen, im Büro oder auswärts, spielen sie alles durch. Sie planen die Anfahrt und den Rückweg; sie fragen sich, wer könnte wo auftauchen. Sie spielen das Was-wäre-wenn-Spiel. Bei Veranstaltungen im Büro schaut regelmäßig die Polizei vorbei.
Die Angriffe und Bedrohungen, die Hassmails und Pöbeleien, sie sind für Sebastian Striegel zu einer Begleitmusik seines Alltags geworden. Oktober 2015, wenige Monate vor der Landtagswahl. Endlich Urlaub. Sebastian Striegel steht auf der Fähre nach Hiddensee. Die Möwen kreischen, der Wind weht ihm um die Nase, als eine Eilmeldung auf seinem Smartphone aufploppt: Messer-Attacke auf die Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker. Die Urlaubsidylle ist schlagartig dahin. „Ich wusste, bald stehe ich selber wieder im Straßenwahlkampf. Das ist eine Situation, in der man sich nicht schützen kann.“
2015 ist das Jahr, in dem sein Büro mehrmals attackiert wird. Mal wird die Fassade beschmiert, mal werden die Scheiben mit Pflastersteinen eingeworfen. Mittlerweile ist der Laden aufgerüstet - nicht nur mit Kameras. Man steht jetzt wieder draußen vor dem Schaufenster. „Fassen sie mal an“, sagt Striegel und drückt gegen die Scheibe. Sie gibt nach. Ein spezielles Plexiglas, montiert vor das eigentliche Schaufenster. „Wenn man da Steine drauf wirft, prallen die zurück.“ Landesmittel haben die Sonderausstattung ermöglicht. Sobald das Landeskriminalamt zu dem Schluss kommt, dass Sicherungsmaßnahmen für Abgeordneten-Büros nötig sind, gibt das Finanzministerium Geld dafür frei.
Steinewerfer mag das abhalten. Die Hass-Pöbler machen weiter. (mz)

