Schreien, spucken, schlagen Schreien, spucken, schlagen: Der harte Arbeitsalltag der Sanitäter in Sachsen-Anhalt

Es sind nur Sekundenbruchteile, die sich Fiona Weißenfels weggedreht hat, um aus einem Fach ein Medikament zu holen. Doch diese Augenblicke reichen ihrem Patienten. Eben lag der noch im Krankenwagen auf der Liege. Nun hat er sich aufgerappelt und steht der jungen Sanitäterin gegenüber. Plötzlich greift er an. Für Fiona Weißenfels wird die Situation schlagartig bedrohlich. Nun muss die zierliche Frau genau wissen, was zu tun ist.
„Solche Situationen können jedem Retter im Einsatz begegnen“, sagt Ken Oesterreich. Seit mehreren Jahren befasst sich der studierte Geisteswissenschaftler mit Gefahrensituationen. Als Trainer ist er im internationalen Netzwerk „Todd Group“ aktiv, das sich mit waffenloser Selbstverteidigung befasst.
Aggressive Patienten sind für Sanitäter Alltag geworden
„Aggressive Patienten, die pöbeln, spucken oder handgreiflich werden, sind fast schon Alltag von Sanitätern“, sagt Oesterreich. Deswegen müsse man die Einsatzkräfte darauf vorbereiten. Extra dafür hat er ein Seminar konzipiert, mit dem er an einem Mittwochvormittag Ende Oktober in der Landesrettungsschule des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Magdeburg zu Gast ist. Seinen Kurs besuchen Notfallsanitäter im zweiten Lehrjahr. Auch Fiona Weißenfels gehört zu der Ausbildungsklasse.
Die Situation, in der die junge Sanitäterin gerade steckt, ist eine Übung des Seminars. Ihr Patient, der Angreifer, ist ihr Klassenkamerad Luca Sauerzweig. Und dem schlägt sie nun gegen die Hand. Dabei reißt die 17-Jährige ihren Körper nach unten. So hatte es Trainer Oesterreich zuvor erklärt. Die ruckartige Bewegung lockert den Griff. Weißenfels kann sich aus der Umklammerung befreien und aus dem Rettungswagen fliehen. „Das Wichtigste ist, so schnell wie möglich in Sicherheit zu kommen“, sagt Ken Oesterreich. „Wenn der Patient im Krankenwagen randaliert, ist das nicht schlimm - Sachschäden sind immer besser als Personenschäden.“
Unterricht bis nach Südtirol
Seit 2008 unterrichtet Oesterreich Kurse für Rettungskräfte. „Als ich damit anfing, wollten die großen Verbände davon noch nichts wissen.“ Die meisten hätten gesagt, dass ihre Mitarbeiter fit im Eigenschutz sind. Nur langsam habe sich die Einsicht durchgesetzt, dass auch Rettungskräfte in Not geraten können – und dann Auswege aus dieser Situation finden müssen. Oesterreich zieht dabei eine Parallele zu anderen Berufen, in denen zum Beispiel mit hochexplosiven Stoffen gearbeitet wird. „Bei Sanitätern ist das Gefahrgut, mit dem umgegangen werden muss, der Patient.“
Oesterreich unterrichtet mittlerweile in ganz Deutschland. Sogar in Südtirol war er bereits mit seinem Kurs. Den gestiegenen Bedarf erklärt der Präventionstrainer auch mit einem Wandel in der Gesellschaft. „Die Aggressionsbereitschaft wird immer größer“, sagt er. Auch Annemarie Söder, Sprecherin des DRK-Landesverbandes Sachsen-Anhalt, sagt: „Der subjektiven Wahrnehmung nach steigt die Zahl der Angriffe.“
Wie oft Rettungskräfte Opfer von Straftaten werden, wird in der Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) erfasst. Für Sachsen-Anhalt weist diese im vergangenen Jahr 104 Delikte aus, darunter 47 Körperverletzungen, sechs Nötigungen sowie 17 Bedrohungen. 2017 wurden 78 Straftaten gezählt. Das entspricht einer Steigerung um 33 Prozent. Noch deutlich häufiger werden Polizeibeamte Opfer von Straftaten. 2018 geschah das 1 473 Mal. Bei 80 Prozent der Delikte handelte es sich um Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Feuerwehrleute wurden 2018 laut PKS 18 Mal Opfer einer Straftat.
Dass Retter häufig selbst in Not geraten, verdeutlicht auch eine 2018 von der Ruhr-Universität Bochum veröffentlichte Studie. Für diese wurden 812 Einsatzkräfte aus Nordrhein-Westfalen zu ihren Gewalterfahrungen befragt. Bei den Einsatzkräften im Rettungseinsatz gaben 26 Prozent an, in den vergangenen zwölf Monaten Opfer von körperlicher Gewalt geworden zu sein.
Diesen Eindruck bestätigt auch die Polizeiliche Kriminalstatistik , die bei Rettungskräften einen Zuwachs an Straftaten dokumentiert. Und fragt man Helfer, kann fast jeder von ihnen von Gewalt im Einsatz berichten – so auch Konrad Schmidt. Der erfahrene Notfallsanitäter ist seit 2013 beim DRK im Dienst und auch zum Seminar in die Landesrettungsschule gekommen.
Gewaltpotenzial innerhalb der vergangenen Jahre nicht spürbar gestiegen
„Es gibt immer wieder Situationen, bei denen Patienten sehr aggressiv auftreten“, erzählt der 26-Jährige. Oft seien Alkohol oder andere Drogen im Spiel. Vor nicht allzu langer Zeit habe es in seinem Bereich einen Vorfall gegeben, bei dem ein Mann in einem Rettungswagen randalierte. „Er schlug so hart gegen die Scheibe, dass diese sprang und ein Glassplitter direkt im Auge eines Kollegen landete.“
Schmidt sagt, dass das Gewaltpotenzial innerhalb der vergangenen Jahre nicht spürbar zugenommen habe. „Nur ein kleiner Teil unserer Patienten wird gewalttätig – und das war auch vor fünf Jahren schon so.“
Konrad Schmidt sagt aber auch, dass ihn mögliche Gefahren in seiner Arbeit beeinflussen. „Wenn wir in eine Wohnung in einem sozialen Brennpunkt gerufen werden, dann schaue ich gleich zu Beginn nach einem Fluchtweg.“ Man wisse schließlich nie, was einen erwarte und ob man die Wohnung schnell verlassen müsse.
Eigensicherung für Sanitäter oberstes Gebot
Auch bei größeren Menschenmengen achte er darauf, ob aggressive Personen in der Nähe sind. „Ich will natürlich in allererster Linie helfen, deswegen bin ich ja auch Sanitäter geworden“, sagt Schmidt. „Doch wenn sich jemand dagegen wehrt oder die Situation für mich zu gefährlich ist, dann muss ich auch an mich und meine Familie denken.“
Die Eigensicherung, das sagt auch Ken Oesterreich, ist das oberste Gebot. „Oft werden meine Seminare auch als Selbstverteidigungskurse missverstanden.“ Doch es gehe nicht darum, die Gewalt zu erwidern oder sich sogar mit dem pöbelnden Patienten zu prügeln. „Das würde ohnehin häufig nicht weiterhelfen, da die Patienten oft schmerzresistent sind, weil sie zum Beispiel unter Drogeneinfluss stehen.“
Der Ansatz des Trainers ist es, die Arbeitsabläufe so zu gestalten, dass keine Gefahren entstehen. „Wenn der Patient vor mir liegt und ich im Kopfbereich tätig bin, kann ich immer eine Hand auf seine Stirn legen.“ So könne man es ihm schwerer machen, aufzustehen. „Und mit der zweiten Hand ist es problemlos möglich, Medikamente oder Untersuchungsinstrumente zu holen.“
Gefahren verhindern
Im Seminar geht es jedoch nicht nur darum, wie man körperlich auf die Patienten einwirkt. Auch eine bessere Kommunikation wird erprobt. Ken Oesterreich macht das an einem Beispiel deutlich, das einer seiner Kursteilnehmer erzählte. „Der Patient war ein Mann, der gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden war.“ Er sei die Kellertreppe hinunter gefallen. Die Sanitäter kamen und behandelten ihn vor Ort.
„Alles war so lange in Ordnung, bis sie den Mann mit ins Krankenhaus nehmen wollten.“ Da sei er ausgerastet, habe um sich geschlagen. „Wie sich später herausstellte“, erklärt Oesterreich, „habe der Patient gedacht, dass er wieder ins Gefängnis kommen soll.“ Die Eskalation hätte also verhindert werden können, wenn man vorher genau kommuniziert hätte, dass man vom Rettungsdienst ist.
Fiona Weißenfels, die angehende Notfallsanitäterin, sagt: „Es ist schon gut, dass wir auch mit solchen Situationen konfrontiert werden und uns gezeigt wird, wie wir damit umgehen können.“ Allerdings verbindet sie auch einen Wunsch mit dem Kurs. „Ich hoffe, dass ich das, was ich hier gelernt habe, niemals anwenden muss.“ (mz)
