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Jahrestag der Grenzöffnung Mit Video: Besuch im Sperrgebiet - Wie aus Feinden Freunde wurden

Bis zur Öffnung der innerdeutschen Grenze vor 34 Jahren standen sie sich als bewaffnete Gegner gegenüber. Warum ehemalige Grenzer aus Ost und West im Harz heute gemeinsam an die Zeit erinnern, als Deutschland geteilt war. Ein Besuch im einstigen Sperrgebiet.

Von Alexander Schierholz Aktualisiert: 09.11.2023, 12:22
"Wir müssen das gemeinsam aufarbeiten": die ehemaligen Grenzer Wolfgang Engler, Lothar Engler und Andreas Würz (v.li.) an einem alten Grenzzaun im Harz.
"Wir müssen das gemeinsam aufarbeiten": die ehemaligen Grenzer Wolfgang Engler, Lothar Engler und Andreas Würz (v.li.) an einem alten Grenzzaun im Harz. (Foto: Alexander Schierholz)

Abbenrode/Halle (Saale)/MZ. - Die Grenze ist verschwunden seit mehr als 30 Jahren, ihre Markierung aber ist noch da. Oder vielmehr: wieder da. In schwarz, rot und gelb gestreift ragt die Grenzsäule in den Herbsthimmel zwischen Abbenrode (Sachsen-Anhalt) und Lochtum (Niedersachsen), an ihrer Spitze Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Ein Nachbau, wie er auch im Heimatmuseum von Abbenrode steht, wo sie an die Geschichte der deutschen Teilung erinnern.

Im Video: Ehemaliger Grenzer erinnern an Teilung Deutschlands

 
Im "Grenzerkreis Abbenrode" engagieren sich ehemalige Grenzer und klären über die innerdeutsche Grenze auf. (Bericht: Anna Lena Giesert)

Entlang der einstigen Nahtstelle zwischen Warschauer Pakt und Nato gibt es etliche solcher Grenzmuseen und Gedenkstätten, meist privat betrieben. Was in Abbenrode anders ist: Hier erinnern ehemalige Grenzer aus Ost und West gemeinsam an die deutsche Teilung und die tödliche Grenze, die vor 34 Jahren mit der Öffnung ihren Schrecken verlor.

Grenzerkreis Abbenrode: Ehemalige Grenzer aus Ost und West erinnern gemeinsam an die deutsche Teilung und die tödliche Grenze

Es sind Männer wie Andreas Würz (61), einst bei den DDR-Grenztruppen in Abbenrode, und Lothar Engler (68), ehemals Beamter beim BRD-Bundesgrenzschutz in Goslar. Männer, die einst Gegner waren und sich bewaffnet gegenüber standen. Im „Grenzerkreis Abbenrode“ haben sie vielerorts im Harz Informationstafeln zur Grenze aufgestellt und die nachgebauten Grenzsäulen. Sie führen Schulklassen durch das Museum, die sich mit der Zeit beschäftigen, in der Abbenrode und das drei Kilometer entfernte Lochtum in zwei Welten lagen, unerreichbar füreinander.

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„Trinken wir erstmal einen Kaffee.“ Engler sitzt am langen Tisch im Abbenröder Dorfgemeinschaftshaus, schenkt ein und bietet Kekse an. Hier haben sie auch 2014 gesessen, bei ihrem ersten großen Treffen im Grenzerkreis, zehn Männer aus Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. Sie brachten ihre Erinnerungen mit und viele Fotos. „Das war wie ein Treffen zwischen Nord- und Südkorea“, scherzt Engler, „für mich einer der spannendsten Nachmittage überhaupt“.

Einst Gegner, plötzlich gemeinsam Erinnerungen austauschen? „Anfangs war das komisch“, sagt der ehemalige Ost-Grenzer Andreas Würz

Engler gehört zu den Vätern des Grenzerkreises, der aus einem Aufruf entstanden ist: Ein Kollege sucht seinerzeit Fotos für seine Website. Engler kann helfen. Mit Bildern. Und Kontakten. Anfangs treffen sie sich zu viert. Schnell werden sie mehr.

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Aber geht das so einfach: Einst Gegner, plötzlich gemeinsam am Kaffeetisch Erinnerungen austauschen? Natürlich nicht. Sie mussten erst einmal Vertrauen zueinander aufbauen. „Anfangs war das komisch“, sagt der ehemalige Ost-Grenzer Andreas Würz und grinst, während er sich noch einen Keks angelt: „Ich habe da ja erstmal dem ehemaligen Klassenfeind gegenübergesessen.“ Denn das sei den Angehörigen der DDR-Grenztruppen im Politunterricht von vornherein eingetrichtert worden: Auf der anderen Seite des Zauns steht der Klassenfeind. „Als junger Mann habe ich das auch geglaubt.“

Die drüben haben ihren Job gemacht, wir haben unseren Job gemacht.

Lothar Engler, ehemaliger West-Grenzer

Die Grenze, sie war auch in den Köpfen. Und ist es bei manchen offenbar immer noch. „Viele meiner früheren Kollegen“, erzählt Würz, „wollen mit dem Grenzerkreis nichts zu tun haben. Sie sehen sich immer noch als Verlierer.“ Er nicht. „Ich bin da aufgeschlossen.“

Dabei sind sie sich jahrelang regelmäßig begegnet, die Grenzer Ost und die Grenzer West. Andreas Würz etwa und Wolfgang Engler (65), der Cousin von Lothar Engler, ehemals beim Zollkommissariat Bad Harzburg. „Wir kennen uns seit 1983“, erzählt Würz. Zwei bis drei Mal in der Woche haben sie sich bei Streifengängen gesehen. Sie standen voreinander, „manchmal so dicht“, Würz hält seine Rechte einen Meter vor die Brust. Miteinander reden durften sie nicht, den DDR-Grenzsoldaten war Kontakt zum Klassenfeind streng verboten. Aus heutiger Sicht eine bizarre Situation. „Weihnachten 1989“, erinnert sich Engler, „haben wir zum ersten Mal gemeinsam in der Kneipe gesessen“. Längst sind sie befreundet.

Lothar Engler, der ehemalige Bundesgrenzschützer, sieht die Sache nüchtern: „Die drüben“, das rutscht ihm ein paar Mal heraus während des Gesprächs im Abbenröder Dorfgemeinschaftshaus, „haben ihren Job gemacht, wir haben unseren Job gemacht“. Aber alle zusammen seien sie die Zeitzeugen, die die Grenze täglich erlebt hätten, von verschiedenen Seiten. Für ihn ist deshalb klar: „Wir müssen das gemeinsam aufarbeiten. Wenn wir nicht davon berichten, tut es niemand.“

Wie der Zufall Lebenswege vorzeichnet: Lothar Engler weiß, für ihn hätte es auch anders kommen können. Sein Vater, erzählt er, war nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien vertrieben worden. Eine neue Heimat fand er in Lochtum, wo Lothar Engler groß geworden ist. „Aber es hätte auch drei Kilometer weiter östlich sein können, in Abbenrode“, sinniert Engler. „Dann wäre ich vielleicht auch bei den Grenztruppen gelandet.“

Modell der Grenzanlagen im Heimatmuseum Abbenrode - der Schrecken, anschaulich gemacht im Kleinformat

So wie Andreas Würz, der aus Stapelburg stammt, hart an der Grenze im Osten, im Sperrgebiet, das auch DDR-Bürger nicht ohne weiteres betreten durften. Er hatte eine tödliche Grenze zu bewachen. Doch in die Situation, auf Flüchtende schießen zu müssen, sei er nie gekommen, sagt er. Bei „versuchten Grenzdurchbrüchen“, so hießen Fluchtversuche im kalten Bürokratendeutsch, sei er nie im Dienst gewesen. „Heute bin ich froh darüber.“ Er wisse nicht, räumt er ein, wie er reagiert hätte.

Im Heimatmuseum haben sie ein Modell der Grenze zwischen Abbenrode und Lochtum gebaut. Metallgitterzäune, Kolonnenweg, Spurensicherungsstreifen, Wachturm – der Schrecken, anschaulich gemacht im Kleinformat. Ein Text klärt nüchtern auf über die Funktionsweise der Selbstschussanlage SM-70. Andreas Weihe, Vorsitzender des Heimatvereins und ehemaliger Ost-Grenzer, drückt ein paar Knöpfe – sogar die Beleuchtung der Grenzanlagen lässt sich ein und ausschalten.

Viele meiner früheren Kollegen sehen sich immer noch als Verlierer.

Andreas Würz, ehemaliger Ost-Grenzer

Am Rand des Modells steht die Nachbildung einer hölzernen Beobachtungsplattform. „Dort ist schon Westen“, erklärt Lothar Engler. Das Original ist längst abgebaut. Dorthin haben Beamte des Bundesgrenzschutzes oder des Zolls in Zeiten des Kalten Krieges oft Besuchergruppen geführt – Rentner aus dem Ruhrpott, Schulklassen aus dem Schwarzwald. Die innerdeutsche Grenze, im Westen war sie auch immer ein Ausflugsziel – gut für ein bisschen Grusel nach dem Sonntagskaffee. Wolfgang Engler, der Ex-Zollbeamte, schüttelt noch heute den Kopf darüber, wie wenig viele damals wussten über die deutsche Teilung. Er findet: Das darf sich nicht wiederholen, nachfolgende Generationen sollten mehr wissen.

Grenzdenkmal Wülperode im Harz: Ein Stück Metallgitterzaum ragt wie eine stumme Mahnung in den Herbsthimmel

So haben sie das Fallstein-Gymnasium in Osterwieck (Harzkreis) für eine Patenschaft über das Grenzdenkmal Wülperode gewonnen. Regelmäßig pflegen Schülerinnen und Schüler die Relikte der Sperranlagen nördlich von Abbenrode: Ein Stück Metallgitterzaun ragt wie eine stumme Mahnung in den Herbsthimmel; man hat es beim Abbau vor mehr als 30 Jahren stehen lassen. Im 45-Grad-Winkel sind Betonplatten in den Boden eingelassen. „Fahrzeugsperren“, erklärt der ehemalige Grenzer Andreas Würz. Sie sollten die Flucht mit dem Auto verhindern.

Heute rauscht der Verkehr auf der Landesstraße 90 zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen vorbei an diesem Stück Zeitgeschichte. Auch hier leuchtet eine nachgebaute Grenzsäule in kräftigen Farben.