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Die Mauerfall-Verschwörung Die Mauerfall-Verschwörung: Ist das letzte Rätsel des Herbstes 1989 gelöst?

Von Steffen Könau 10.11.2019, 07:15
Nach dem 3. Oktober 1990 wanderte das Staatsemblem der DDR ins Museum. (Symbolbild)
Nach dem 3. Oktober 1990 wanderte das Staatsemblem der DDR ins Museum. (Symbolbild) dpa

Halle (Saale) - Es fing schon lange vor dem Tag an, an dem Michael Wolski zum ersten Mal wirklich stutzte. „1986 ging es wohl los“, sagt der gebürtige Freiberger, der zu DDR-Zeiten Mitarbeiter des Firmenimperiums von Erich Honeckers Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski war. Nach einer Leningrad-Reise wurde Wolski plötzlich einvernommen: Mit wem er geredet habe, was die sowjetischen Genossen hätten wissen wollen. „Man spürte das Misstrauen, das aufgekommen war, seit Gorbatschow in Moskau übernommen hatte.“

Aus heutiger Sicht wenig verwunderlich, hatte DDR-Staatschef Honecker von der Auslandsspionageabteilung der Staatssicherheit doch die Mitteilung bekommen, dass in amerikanischen Strategierunden über Moskauer Ideen gesprochen wurde, die DDR aufzugeben.

Michael Wolski über den Mauerfall: Es war ein geplantes Ende

Wolski, kein Stasi-Mann, sondern als Leiharbeiter bei einer US-Firma angestellt, die in der DDR Geschäfte machen wollte, wusste damals noch nichts davon. Erst im Januar 1990 stolpert er über einen Hinweis, dass hinter der friedlichen Revolution, der Wende und dem Mauerfall vielleicht eine ganz andere Geschichte stecken könnte:

„Mein damaliger Chef wies mich an, eine Firma, die ich in der DDR gründen sollte, nicht zu gründen, weil es die DDR sowieso nicht mehr lange geben werde.“ Niemand, so Wolski, habe zum damaligen Zeitpunkt schon über die deutsche Einheit gesprochen. „Aber die wussten das schon.“ Wieso eigentlich?

Der studierte Ökonom beginnt zu recherchieren, er liest Bücher, macht sich fortwährend Notizen und er befragt frühere Kollegen bis hin nach Moskau und in die Schweiz, wo er nach dem Ende der DDR für viele Jahre tätig ist.

„Ich habe Splitter gesammelt und zusammengesetzt“, sagt er heute, inzwischen sehr sicher, die einzig wirklich wahre Geschichte von Mauerfall und deutscher Einheit erzählen zu können. „Auch wenn ich weiß, dass ich mich damit bei allen in die Nesseln setze, direkt zwischen die Stühle.“

Wolski schrieb ein Buch („1989 Mauerfall Berlin“) über seine Theorie

Denn Wolskis Theorie zufolge, die er in seinem Buch „1989 Mauerfall Berlin“ ausbreitet, war die Öffnung der Grenze in Berlin ebenso wenig Zufall wie zuvor die Öffnung der Grenze in Ungarn, die Suspendierung des Schießbefehls und die Ernennung des weltkriegserfahrenen Geheimdienstlers Wladimir Semjonow zum sowjetischen Sonderbotschafter in Bonn.

Eine Bemerkung von Eduard Schewardnadse verrate alles, sagt Wolski: Gorbatschows Außenminister habe früh angekündigt, dass „die Existenz zweier deutscher Staaten die Sicherheit Europas bedrohe“ und man sich in Moskau deshalb Gedanken mache, „wie eine gefährliche Unlenkbarkeit der Ereignisse zu vermeiden wäre“.

Hat Wolski den Schlüssel zum letzten Rätsel rund um das Ende der DDR gefunden?

Michael Wolski glaubt, den Schlüssel zum letzten Rätsel rund um das Ende der DDR nach nur knapp einem Jahr Siechtum gefunden zu haben. „Man muss sich doch nur mal überlegen, wie lange es normalerweise dauert, einen Vertrag abzuschließen - und sei es nur, um eine kleine Firma zu kaufen.“ Jahre, sagt der 67-Jährige. Und so eine Einheit, die soll in zehn Monaten herbeiverhandelt worden sein?

Nein, Wolski ist fest überzeugt, dass die wahre Geschichte des Mauerfalls viel früher beginnt, nicht im Sommer ’89 und auch nicht im Frühjahr. „Es ging Gorbatschow und seinen Leuten um das Überleben der Sowjetunion“, sagt er, „und sie waren sicher, dass sie das nur sichern konnten, wenn ihnen die anderen sozialistischen Länder nicht mehr wie Klötze am Bein hängen.“ Schewardnadse habe sogar einmal ausdrücklich davon gesprochen, dass die UdSSR „Ballast abwerfen“ müsse, um zu überleben. „Und genau das haben sie dann auch gemacht.“

Wann begann die Geschichte des Mauerfalls?

Nur eben über Umwege. „Denn seine Generale hätten es Gorbatschow nie durchgehen lassen, das aufzugeben, wofür so viele sowjetische Soldaten im Zweiten Weltkrieg gestorben waren.“

Wolskis Theorie vom Mauerfall als Ereignis, bei dem die sowjetische Führung im Hintergrund die Fäden zog, während der sowjetische Geheimdienst den Ablauf über Jahre hinweg minutiös organisierte, setzt bei diesem Konflikt an: Wie konnte die Sowjetführung den teuren Ballast der osteuropäischen Bruderländer loswerden, ohne dabei ertappt zu werden, genau das vorzuhaben?

So begründet Wolski seine Theorie zum Mauerfall:

Das Schicksal von Stalins Geheimdienstchef Lawrenti Beria muss die Männer um Gorbatschow gemahnt haben. Beria hatte im Sommer 1953, wenige Tage vor dem Arbeiteraufstand in der DDR, im Politbüro der KPdSU eine deutsche Wiedervereinigung vorgeschlagen. Zwei Wochen später wurde der seinerzeit mächtigste Mann der Sowjetunion verhaftet, ein halbes Jahr später erschossen.

Beim großen Spiel um die Sicherung der Fortexistenz der Sowjetunion seien Gorbatschow und seine Leute deshalb äußerst vorsichtig vorgegangen. „Sie mussten eine Situation schaffen, in der die Mauer wie von selbst fiel“, beschreibt Michael Wolski die „verdeckte Aktion“ (Wolski), die seiner Ansicht nach im Jahr 1985 oder 1986 ihren Anfang nahm.

„In diese Zeit fiel auch eine Änderung des Umgangs der DDR mit den sowjetischen Genossen“, erinnert sich Wolski, „man war jetzt misstrauisch und argwöhnte, dass die UdSSR nicht mehr treu zur DDR stand.“

Ein Eindruck, den damals auch der spätere Honecker-Nachfolger Egon Krenz gewann. Je mehr in der Sowjetunion von Reformen die Rede war, desto energischer habe Honecker eine Annäherung an die Bundesrepublik gesucht, ohne den Konflikt mit Gorbatschow zu scheuen. Der setzte erst auf wirtschaftlichen Druck, indem er der DDR die Öllieferungen kürzte. Später jedoch, glaubt Wolski nach drei Jahrzehnten Forschung, habe Moskau beschlossen, die DDR lieber ganz loszuwerden.

KGB-Agenten im Politbüro

Ein Manöver auf dem ganz großen Schachbrett der Weltpolitik, vor Ort durchgeführt von Einflussagenten, auf die der KGB bis ins SED-Politbüro setzen konnte. Die Zeitabläufe sprächen eine deutliche Sprache, sagt Wolski, der frühere Mitarbeiter von Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski, der als Verfechter einer Westöffnung der DDR mit Ziel deutsch-deutscher Konföderation galt.

„1989 kam erst der Abbau der Grenzanlagen in Ungarn, dann das Grenzpicknick mit der ersten Massenflucht, dann die Botschaftsbesetzungen mit täglicher Berichterstattung in der Tagesschau.“

Zugleich sei der Schießbefehl an der deutsch-deutschen Grenze aufgehoben worden und über - den offiziell in den Ruhestand versetzten, aber immer noch in Bonn lebenden - Wladimir Semjonow habe es Geheimgespräche mit dem ebenso erfahrenen neuen US-Botschafter Vernon Walters gegeben. „Da begegneten sich zwei alte Haudegen des Kalten Krieges auf Augenhöhe.“

Wolski erkennt Muster im Feintuning der Ereignisse Anfang November:

Auch im Feintuning der Ereignisse Anfang November glaubt Michael Wolski ein Muster zu erkennen. Nach dem 7. November, in der Sowjetunion als „Tag der Oktoberrevolution“ begangen, seien die Sowjet-Truppen in der DDR planmäßig bis zum 12. November in ihren Kasernen gewesen.

Auch die SED-Spitze war am 9. November aus dem Spiel, weil sie bis in den späten Abend tagte. Nur Günter Schabowski hatte die Sitzung verlassen, um die Grenzöffnung bekanntzugeben, dies aber mit Absicht in der Rolle eines überforderten älteren Herren getan, der gar nicht weiß, was er da Grundstürzendes sagt.

Teil des Planes, meint Wolski. „Die Aussage, ,sofort, unverzüglich’“, sagt er, „war ja falsch, die neue Reiseregelung war ja nur ein Entwurf.“ Doch niemand konnte den Satz zurückholen: Als die Menschen zur Grenze pilgerten, waren die Politbüromitglieder auf dem Weg nach Wandlitz. Und als sie die Nachricht erreichte, dass Grenzoffiziere angesichts des Drucks der Menschenmenge die Schlagbäume geöffnet hatten, war es für jedes Eingreifen zu spät.

Diese Reaktion sei ein deutlicher Fingerzeig auf die Planmäßigkeit gewesen:

Für Michael Wolski ist nicht zuletzt die Reaktion der sowjetischen Botschaft ein deutlicher Fingerzeig auf den planmäßigen Charakter der Ereignisse: „Als die Nachricht vom Mauerfall die sowjetische Botschaft erreichte, schlief der Botschafter schon, der als Einziger berechtigt gewesen wäre, Gorbatschow in Moskau zu wecken.“

Der Gesandte an der Botschaft entschied, seinen Chef schlafen zu lassen, denn er habe Anweisung gehabt, nur im Fall überraschender Ereignisse Alarm zu schlagen. „Überraschend kam das für die Russen also offenbar nicht“, meint Michael Wolski, der dem nächsten Jahr schon entgegenfiebert. „Dann läuft in vielen Archiven die 30-jährige Sperrfrist ab“, erklärt er, „und ich rechne damit, dass wir noch viel Neues erfahren werden.“ (mz)

Hintergründe zu Buch und Autor: www.1989mauerfall.berlin