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Renaissance der Schiene Geht's hier bald weiter?: Rufe nach Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken in Sachsen-Anhalt werden lauter

Von Alexander Schierholz 19.06.2019, 10:00
Werden in Sachsen-Anhalt stillgelegte Bahnstrecken wieder aktiviert? (Symbolbild)
Werden in Sachsen-Anhalt stillgelegte Bahnstrecken wieder aktiviert? (Symbolbild) www.imago-images.de

Halle (Saale) - Im Korb hat Ferdinand Fischer Schnaps, Bier und Broschüren, damit drängt er sich durch den voll besetzten Zug: „Möchte jemand etwas trinken?“ Pfingstsonntag, 11 Uhr, Sonderzug 80575 bringt Ausflügler aus dem Unstruttal nach Naumburg. Ihr Ziel ist die „Weinmeile“ zwischen Naumburg und Bad Kösen. Der Wein ist noch fern, die Stimmung in der Bahn schon gut: Bierflaschen werden geöffnet, Schnäpse gekippt.

Bloß Fischer (24) muss nüchtern bleiben. Er hat Dienst, ehrenamtlich. Und extra seine „Uniform“ angezogen, ein gelbes Poloshirt mit dem Logo der „Interessengemeinschaft Unstrutbahn“. Fischer, Student der Verkehrswirtschaft, ist Vorsitzender des Vereins, der sich für den Erhalt der 55 Kilometer langen Bahnlinie zwischen Naumburg und Artern (Thüringen) einsetzt.

Ob Weinfeste oder Weihnachtsmarkt - regelmäßig schickt der Verein Sonderzüge auf die Strecke. Befahren wird dann sogar ein Abschnitt in Thüringen, auf dem regulär seit Ende 2006 keine Züge mehr rollen: Am Pfingstsonntag pendelt die Bahn zweimal zwischen Naumburg und dem thüringischen Donndorf. Normalerweise ist in Wangen Schluss, dem letzten Haltepunkt in Sachsen-Anhalt - und das auch erst wieder seit zehn Jahren. Nachdem Thüringen den Verkehr auf seinem Streckenabschnitt abbestellt hatte, endeten die Züge aus Naumburg zunächst in Nebra. Erst 2009 wurde der Abschnitt von Nebra nach Wangen reaktiviert.

660 Kilometer Strecke in Sachsen-Anhalt stillgelegt

Strecken wie die der Unstrutbahn rücken gerade wieder ins Blickfeld von Verkehrspolitikern und Bahnverbänden. Von einer Renaissance der Schiene ist die Rede, nach Jahrzehnten des Kahlschlags. Derzeit umfasst das deutsche Schienennetz rund 38.500 Kilometer, vor 25 Jahren war es noch 44.600 Kilometer. Allein in Sachsen-Anhalt sind 660 Kilometer Strecke stillgelegt worden, so viel wie in keinem anderen Bundesland. Kommt jetzt die Kehrtwende? Unlängst haben der „Verband deutscher Verkehrsunternehmen“ und die „Allianz pro Schiene“ eine lange Liste mit Strecken vorgestellt, die aus ihrer Sicht wiederbelebt werden sollten: 186 Verbindungen, 3072 Kilometer.

Bis die Liste abgearbeitet ist, dürften Jahre vergehen. Wenn überhaupt alle Vorhaben umgesetzt werden. Doch wie aufwendig ist die Reaktivierung einer stillgelegten Bahnstrecke? Nachfrage bei denen, die es wissen müssen - bei der IG Unstrutbahn. Vor mehr als zehn Jahren war der Verein maßgeblich daran beteiligt, dass auf den rund zwei Kilometern zwischen Nebra und Wangen wieder Züge fahren.

Wangen ist nicht irgendein Dorf im Unstruttal. In der Nähe war 1999 die Himmelsscheibe von Nebra entdeckt worden. Oberhalb des 400-Einwohner-Ortes erhebt sich seit 2007 wie ein gelbes Raumschiff die „Arche Nebra“. Das Dokumentationszentrum erzählt die Geschichte der Himmelsscheibe und ihres Fundes. Es ist damit ein bedeutendes Touristenziel im Land.

Doch per Zug war die „Arche“ anfangs gar nicht erreichbar. Über Jahre hatten sich Kommunalpolitiker vergeblich für einen Haltepunkt in Wangen eingesetzt, wie Thomas Müller sagt. Dann kamen er und seine Leute.

Ein Angebot an den Minister

Müller (47) ein freundlicher Kahlkopf, ist Mitgründer des Vereins und dessen langjähriger Vorsitzender. 2006 oder 2007, so genau weiß er das nicht mehr, hatten sie einen Termin bei Karl-Heinz Daehre, damals Verkehrsminister im Land. Sie machten dem CDU-Mann ein Angebot: Sie würden in Wangen einen Bahnsteig bauen, in Eigenleistung. „Wir hatten schriftliche Zusagen von Sponsoren in der Tasche“, erinnert sich Müller. Das Kalkül: Wenn es schon einen Bahnsteig gibt, muss auch ein Zug fahren.

Nach dem Treffen in Magdeburg gingen noch ein paar Briefe hin und her. Schließlich sagte Daehre zu: Wenn ihr baut, fahren wir bis Nebra. Die Deutsche Regionaleisenbahn (DRE) ließ den Verein machen. Die DRE hat die Strecke von der Deutschen Bahn gepachtet, sie ist zuständig für die Bahnanlagen.

Was den Minister überzeugt hat? Müller ist heute noch sicher: „Unser ehrenamtliches Engagement hat den Ausschlag gegeben.“ Doch ohne das Land ging es nicht. Schienennahverkehr ist in Deutschland Ländersache. Die Bundesländer bestellen und bezahlen Zugfahrten. Dafür erhalten sie Geld vom Bund.

In Wangen ist der erste provisorische Bahnsteig aus Gerüstbauteilen mittlerweile einer dauerhaften Konstruktion gewichen. Unweit davon steht eine Tafel mit Informationen und Tipps für Touristen. Thomas Müller, der natürlich auch das gelbe Polohemd mit dem Vereinslogo trägt, beäugt sie kritisch: „Schon etwas verblasst“, murmelt er. Entlang der Strecke stehen mehrere solcher Tafeln, alle aufgestellt von Vereinsmitgliedern. Sie haben auch die Rampe zum Bahnsteig aufgeschüttet, Pflastersteine gelegt, die Strecke vor der Wiederinbetriebnahme von Gebüsch und kleinen Bäumen freigeschnitten. Das machen sie heute noch, wenn es notwendig ist. Vor allem auf dem nur ab und an mit Sonderzügen befahrenen Abschnitt in Thüringen.

Und, wie aufwendig war das? „Überschaubar“, meint Müller. Ein paar Arbeitseinsätze an Wochenenden hätten genügt. Auch weil auf dem Abschnitt Nebra-Wangen vor der Wiedereröffnung immer mal wieder Sonderzüge unterwegs waren. Damit sei die Strecke stets einigermaßen befahrbar geblieben.

Eine Familie von Eisenbahnern

So einfach ist es nicht immer. „Wenn fünf Jahre kein Zugverkehr war, wird es kritisch“, sagt Müller. Dann könnten Baumwurzeln das Gleisbett beschädigen, Eisenbahner sprechen vom Oberbau. „Dann reicht eine punktuelle Oberbausanierung möglicherweise nicht mehr, sondern man muss neu bauen. Das wird immens teuer und aufwendig.“

Müllers erster Arbeitseinsatz an der Strecke ist 30 Jahre her. Als Lehrling erneuerte er 1989 in einem Bautrupp den Oberbau bei Donndorf, wie er erzählt. Der Sozialpädagoge ist im Erstberuf Schienenfahrzeugschlosser. „Alle Männer in meiner Familie waren bei der Eisenbahn, Lokführer, Schlosser, vom Urgroßvater an.“ Er wuchs in Roßbach bei Naumburg auf, lebte in Großjena und Naumburg. Wann immer es ging, fuhr er mit der Unstrutbahn, auch später, als er längst im thüringischen Nordhausen lebte. „Irgendwie ist die Bahn für mich Heimat.“

Als liebenswerte nostalgische Spinner wollen sie bei der IG Unstrutbahn aber nicht abgestempelt werden. Schon der Begriff „Sonderzug“! Vereinschef Ferdinand Fischer grinst: „Das klingt mir zu sehr nach Dampfloks und fotografierenden Bahnfans. Uns geht es aber um regelmäßigen Nahverkehr.“ Von Naumburg bis Artern sollten wieder regulär Züge rollen, wenigstens an den Wochenenden. Daran halten sie fest, auch wenn es aus Erfurt bisher kein Signal gibt, den Thüringer Abschnitt wieder in Betrieb zu nehmen. Und die Sonderfahrten? Sind auch Mittel zum Zweck: „Wir wollen zeigen, was möglich ist“, sagt Thomas Müller.

In Sachsen-Anhalt immerhin ist der Verkehr gesichert. Erst im Dezember hat der private Betreiber Abellio den Zugbetrieb übernommen, der Vertrag läuft bis 2032. Wer fährt mit? Durchschnittlich 700 Fahrgäste werktags, sagt die Landesnahverkehrsgesellschaft Nasa, samstags und sonntags in der Ausflugssaison sogar mehr als 1000. Fischer schaut zufrieden: „Wenn das Angebot und die Infrastruktur stimmen, kann der Zug auch auf dem Land Kunden gewinnen.“ Dann zieht er wieder los. Im Korb ist noch Bier. (mz)