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Energiewende Energiewende: Die Sonnen-Bürger von Magdeburg

Von Jan Schumann 05.11.2016, 09:00
Genossenschafts-Chef Jörg Dahlke (re.) und sein Trupp. Ihre Vision heißt Energiewende - mit drei Prozent Rendite.
Genossenschafts-Chef Jörg Dahlke (re.) und sein Trupp. Ihre Vision heißt Energiewende - mit drei Prozent Rendite. Andreas Stedtler

Magdeburg - Auch damals schien die Sonne über Magdeburg-Rothensee, sie war nur schlechter zu sehen. Als die Koksofen-Kammern am Industriehafen auf 1.000 Grad Celsius hochfuhren und die Schlote Gift spuckten. Als Magdeburg zu DDR-Zeiten auch die sächsischen Nachbarn in Leipzig mit Ferngas fütterte. Als das Werk im Norden der Stadt zum hämmernden Herz der Industrie geworden war. Schon damals füllten sich im Schatten der Türme schwarze Seen aus Teer - Zeugen einer Industrie ohne Gewissen. Eine Generation später, als das Land Sachsen-Anhalt 2004 seine Spezialisten für Chemie-Altlasten wieder abzog, hatten sie 76.000 Tonnen Gift abgepumpt. Zwar nicht alles, aber ein Anfang.

Solarpark statt kontaminiertem Müll

Alfred Westphal, heute 75, war dabei, als in den 1970er Jahren eine Teerleitung des Gaswerks platzte. Er war Bauingenieur, verdiente sein Geld mit Gas aus Kohle. Havarie in Rothensee: „Dieser Boden, auf dem wir heute stehen, da steckt der totale Dreck drin“, sagt er. Westphal sitzt für Bündnis 90/Die Grünen seit 25 Jahren im Magdeburger Stadtrat, trat schon 1989 dem Neuen Forum bei. Ein politischer Kopf, unnachgiebig, impulsiv. Konkurrenten sagen: oft auch anstrengend.

An diesem sonnigen Novembermorgen schaut er zufrieden über das alte Industriegelände in Rothensee, wo die Ruine mal stand. Das Gasometer: längst gesprengt. Auch der Rest ist abgerissen. Stattdessen steht hier Westphal und ein kleiner Trupp in Schals und Mützen. Auf altem Giftboden, am Fuße der ehemaligen Großgaserei. Auf einer Halde, die zu DDR-Zeiten über Jahre hinweg von Fabrikarbeitern mit kontaminiertem Müll zugeschüttet wurde. Hier haben Westphal und Gefährten auf eigene Faust einen Solarpark aus dem Boden gestampft - ohne Hilfe von Großinvestoren, ohne Zutun von Industrieriesen. Sondern mit einer Genossenschaft aus 100 Mann, die im Sommer eine Million Euro in die Hand nahm, um aus einem Stück geschundenem Koksofen-Land eine Solarlandschaft zu machen.

Mitglieder können jährlich mit drei Prozent Rendite rechnen

„Nichts anderes hätte man auf dem belasteten Boden bauen können“, sagt Westphal. In der Halde steckte massenweise Lindan, ein Insektenschutzmittel, das die Weltgesundheitsorganisation als krebserregend klassifiziert. Doch oben auf der Halde wächst mittlerweile frisches Gras - und auf der Größe von fünf Fußballfeldern laufen seit wenigen Tagen die Solarmodule, die laut Genossenschaft mehr als 600 Haushalte in Magdeburg mit Strom versorgen können.

Das Geschäftsmodell: Von diesem Solarpark, betrieben von Bürgern, soll der Strom ins Netz gespeist werden, der Netzbetreiber wiederum zahlt dafür. Die Preise sind sicher, sagt Jörg Dahlke, Chef der Genossenschaft, die sich Helionat nennt. „Die Vergütung ist per Gesetz für die nächsten 20 Jahre festgeschrieben“, sagte er. Gezahlt werden 8,5 Cent je Kilowattstunde. „Da dürfte eigentlich nichts passieren.“ Die Kalkulation für die Genossen lautet: Mitglieder dürfen jährlich mit drei Prozent Rendite rechnen. Genossenschaftsanteile gibt es für 500 Euro.

Mit Sonnenstrom werden die Genossen nicht reich

Geht es ums Geld oder um die Liebe zur Natur? Die Gemeinschaft hinter dem Bürgerprojekt hat viele Gesichter, viele Motive. Etwa Dahlke, der Chef. Der 38-Jährige gründete Helionat 2009 und machte sich seitdem mit kleineren Dachanlagen in Wolfen, Thale und Wanzleben einen Namen. „Es gibt in Sachsen-Anhalt vielleicht noch fünf oder sechs Genossenschaft wie unsere.“ Reich werden Genossen damit nicht.

Es ist nicht nur das Geld, das die Genossenschaftler antreibt

„Große Investoren würden von Projekten wie diesem die Finger lassen“, sagt deswegen Antje Göppel. Die 35-jährige Landschaftsplanerin arbeitete jahrelang in einem Ingenieursbüro und ist ebenfalls Genossenschaftsmitglied. Ihr Geschäftsfeld waren schon immer die erneuerbaren Energien, sie kennt die Marktpreise. Drei Prozent Rendite? Dann lieber was Richtiges, so die herrschende Meinung. „Doch es ist nicht nur das Geld, das unsere Leute antreibt“, sagt Dahlke. „Sie haben bei diesem Projekt auch das Gefühl, dass sie selbst an etwas Wichtigem arbeiten und die Energiewende vorantreiben.“

Bürgersolarpark als eine persönliche politische Mission

So trieb es auch den Sozialwissenschaftler und Caritas-Mitarbeiter Thomas Kauer in die Genossenschaft. Für ihn ist der Bürgersolarpark so etwas wie eine persönliche politische Mission. „Ist doch so: Wie oft spüren Menschen, dass sie keinen Einfluss auf das haben, was in ihrer Stadt und ihrem Land passiert?“, sagt der 44-Jährige. „Es gibt eine Entfremdung. Aber die Leute, die hier Geld in die Hand nehmen, sehen ganz konkret, dass sie etwas bewegen können.“ Und drei Prozent Rendite? „Ist doch stabil.“ Es gebe Leute, die hätten fünf oder zehn Genossenschaftsanteile, „da lohnt sich das schon richtig“.

Dabei kippelten die Pläne für das optimistische Sonnenprojekt mehrmals, seit die Genossen erste Skizzen im Kopf zeichneten. Vor etwa anderthalb Jahren fällte Dahlke den Entschluss, etwas Großes auf der Gifthalde am Industriehafen zu bauen. Dann ging es los: Es folgte ein Streit mit der Stadt Magdeburg über den Verkaufspreis. Noch heute macht die Genossenschaft ein großes Geheimnis darum, wie viel sie für das Gelände zahlte. „Die Stadt wollte es natürlich nicht verschenken, obwohl es kontaminiert ist“, sagt Dahlke. „Es war jedenfalls mehr als nur ein symbolischer Preis.“ Genossenschaft und Stadt einigten sich schließlich abseits der öffentlichen Bühne.

Ständiges Monitoring des Wassers

Und dann stellte sich den Sonnengenossen die Gretchenfrage: Wie halten wir’s mit Altlasten? Nach Verhandlungen mit dem Land bekamen die Planer der Genossenschaft grünes Licht, eine sogenannte Altlasten-Freistellung. Das heißt im Klartext: Sollten die im Erdreich lagernden Pestizide, Teerreste und Baustoffe - trotz aller Entwarnungen - ins Grundwasser gelangen, ist die Genossenschaft vom finanziellen Risiko freigestellt. „Es gibt natürlich ein ständiges Monitoring des Wassers“, so Dahlke, „und das sieht bisher gut aus“.

Das hat Gründe, trotz Jahrzehnten voller Umweltsünden: Das Land Sachsen-Anhalt startete mit dem Kampfauftrag „Ökologisches Großprojekt“ im gesamten Industrieareal Magdeburg-Rothensee einen jahrelangen Reinigungsprozess, der auch das Gelände der Großgaserei und die Halde umfasste, insgesamt rund 1 000 Hektar. Es begann mit großflächigen Messungen in Grundwasser und Böden in den 1990er Jahren.

Die Teerseen wurden abgepumpt

Das spätere Abpumpen der Teerseen, das zwei Jahre dauerte, galt als Meilenstein. 2006 wurde anhand der Schadstoffanalysen der früheren Fabrikböden ein komplett neues Grundwasserkonzept für das Großareal erarbeitet. Und in den kommenden Jahren, ab 2018, soll der Industriehafen Magdeburg für 40 Millionen Euro ausgebaut werden. Wo einst das Herz der Industrie aufhörte zu schlagen, soll nach dem Willen der Stadt noch viel passieren. Nach Jahren der Leere, die auf die Wende folgten, geht es seit den späten 1990er Jahren industriell wieder aufwärts mit dem Stadtteil, sagt Grünen-Stadtrat Westphal.

„Aber es geht doch nicht nur ums Geld“, sagt er oben auf der Halde. Die schimmernden Solarfelder sind für ihn Zeichen einer neuen Zeit. Der Bürgersolarpark ist für die Genossenschaft freilich nicht ohne Risiko. Von der investierten Million stammen 270.000 Euro aus Eigenkapital der Bürger, der Rest sind Gelder von Banken. „Im Extremfall, wenn etwas passieren sollte, ist das Geld weg“, so Dahlke. Aber was soll passieren, entgegnet Westphal, „die gesetzlichen Zusagen, dass wir unser Geld kriegen, sind doch klar“. Nach 15 Jahren soll sich die Anlage amortisiert haben. „Es ist wichtig, dass sich hier noch mehr bewegt“, so Westphal. Oben die Sonne, unten die Giftreste. Der Sonnentanz auf dem Industrie-Grab soll weitergehen. (mz)

Wo früher Industrieanlagen Gift spuckten, will ab sofort eine Genossenschaft sauberer Energie erzeugen - auf altem Giftboden.
Wo früher Industrieanlagen Gift spuckten, will ab sofort eine Genossenschaft sauberer Energie erzeugen - auf altem Giftboden.
Andreas Stedtler