Heimat seit fast 300 Jahren Heimat seit fast 300 Jahren: Was ein Ureinwohner über Ragwitz sagt

Ragwitz - Ganz ehrlich: Ragwitz? Noch nie gehört. Als ich diesen Ortsnamen auf der Redaktionsliste für die MZ-Dorfserie las, war ich ziemlich verwundert. Sagte mir dieser Ort doch überhaupt nichts. Doch ich war auch neugierig zugleich, welche Geschichten er zu erzählen hat. Diese zu finden, ist wie bei allen bisherigen Recherchen für die Themenreihe knifflig. In Ragwitz fehlte mir allerdings jeder Ansatzpunkt. Hier war ich noch nie.
Manchmal muss man als Reporter aber auch einfach Glück haben. Ohne jede Verabredung fuhr ich in den kleinen Bad Dürrenberger Ortsteil unweit der Autobahn 9 mit nur 94 Einwohnern, um einen ersten Eindruck zu sammeln. Schon am dritten Haus stoppte ich das Auto und befragte einen Einwohner, der gerade zufällig an seinem Auto hantierte. Wo muss man hin? Wen muss man fragen, um mehr über Ihre Heimat zu erfahren? „Gehen Sie zum Arnold, der weiß alles“, sagte mir der Herr und deutete links die Straße hinunter. Im Internet suchte ich hastig eine Telefonnummer des empfohlenen Mannes. „Ich muss Sie treffen, Herr Arnold, haben Sie spontan Zeit?“ Ja, hatte er.
Auf einem Teller in der Mitte liegen Wurst und Schinken
Karl Arnold ist so etwas wie ein Ureinwohner des Dorfes. Und er ist Landwirt. Oder besser gesagt, er war es. „Ich habe den Betrieb inzwischen an meinen Sohn Sebastian übergeben“, erklärt der 73-Jährige. Arnold und ich sitzen am großen Tisch der Familie in der Küche. Auf einem Teller in der Mitte liegen Wurst und Schinken. Erst kürzlich wurde für den Eigenbedarf geschlachtet. „Greifen Sie zu“, lädt Arnold ein und schneidet schnell ein paar Scheiben Brot auf.
Arnold ist MZ-Leser. Die Dorfserie, die seit einigen Wochen läuft, kennt er genau. Und er weiß, was ich will. „Im Jahr 1733 kam unsere Familie hierher“, erzählt er ohne lange Umschweife. „Damals gab es hier im Ort nur 15 Herdstellen, also 15 Bauernhäuser“, schiebt er noch hinterher. Seit fast 300 Jahren ist Ragwitz - der Ort also, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte - die Heimat der Familie. Zuvor hatten die Arnolds in Zschocher, also im Umkreis des schon damals prosperierenden Leipzigs, gelebt.
Ragwitzer schauen noch heute eher nach Sachsen
Aufgrund der kommunalen Strukturen schauen die Ragwitzer noch heute eher nach Sachsen, erzählt Arnold. Oder nach Lützen, zudem der Ort auch lange Zeit gehört haben soll. „Ich bin dort noch Mitglied im Rassegeflügelverein“, erzählt Arnold. Nicht ohne Grund, gibt es auf dem Arnoldschen Hof doch jede Menge Hühner und Enten, aber auch Milchkühe. Zudem werden Weizen, Raps, Zuckerrüben und Wintererbsen angebaut.
Ansonsten gibt es in dem kleinen Ort, in dem übrigens auch der Kreisbrandmeister Robby Stock wohnt, nicht viel. „Schon früher war die nächste Schule in Tollwitz, wo ich als Junge immer hinlaufen musste“, erzählt Arnold. „Es gibt keine Kinder, der Ort stirbt irgendwann aus“, fürchtet er.
Was bedeutet Ragwitz eigentlich?
Ragwitz. Seltsamer Name. Was bedeutet er eigentlich? „Ich glaube, das hat irgendwas mit Acker zu tun“, glaubt Arnold gelesen zu haben. Das Internet verrät, dass „Rag“ für zerfetzten Stoff oder zerrissene Kleidung steht. Ein Hinweis auf das 18. Jahrhundert, als hier nur Bauern und keine Edelleute siedelten?
Während er sich freut, dass mir seine Jagdwurst schmeckt, fällt ihm noch etwas ein: Lottes. Ich schaue ihn fragend an. „Das war die Gaststätte hier im Ort“, sagt er. Aber auch die schloss bereits 1938 ihre Türen. Hinter diesen spielten sich allerdings viele Anekdoten ab, die sich im Ort bis heute erhalten haben und einst auch Arnolds Interesse weckten. So gut es geht, versucht Karl Arnold diese und eigene Erinnerungen zusammenzuhalten. „Ich sitze oft hier und schreibe das auf“, sagt er. Leider, bedauert er, interessiere sich kaum jemand für die Geschichte des Ortes. Mein Besuch hat seinen Zweck erfüllt. (mz)

