Rechenschwäche Rechenschwäche: Die Tortur mit den Zahlen

Halle/MZ. - Michelles Mathematik-Probleme begannen in der ersten Klasse. Stundenlang übte sie erfolglos das Einmaleins. "Hausaufgaben endeten oft in Tränen, sie konnte nicht schlafen, es war die reinste Hölle", sagt Mutter Yvonne D. aus Halle. Michelle verlor die Lust an der Schule, hatte regelrechte Angst - auch vor Hänseleien der Mitschüler. Heute geht die Neunjährige wieder gern zum Unterricht. Neben Sport ist Mathe sogar ihr Lieblingsfach geworden.
Michelle leidet unter Dyskalkulie - der Rechenschwäche. Deutschlandweit sind davon rund fünf bis sieben Prozent der Grundschüler betroffen. Eine Studie in Nordrhein-Westfalen habe einen Anteil von rund 15 Prozent ausgemacht, erklärt Dr. Olaf Steffen. Er ist Lehrbeauftragter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Leiter des Zentrums zur Therapie der Rechenschwäche (ZTR) in Halle, das sich mit Diagnose, Behandlung und Erforschung der Rechenschwäche befasst. Eine Untersuchung der Jenaer Universität, sagt er, habe im Burgenlandkreis sogar ergeben, dass 25 Prozent der Grundschüler nicht verstehen, was sie rechnen.
Ursachen für Rechenschwächen sind vielschichtig. "Wir reden hier aber über ganz normale, intelligente Menschen", betont Steffen. Menschen, die von Beginn an nur kein Verständnis für Zahlen entwickelt haben, sie nicht als abstrakte Mengen begreifen, die Wertverhältnisse in sich tragen und zu anderen Zahlen eingehen. Um schulische Anforderungen zu erfüllen, lernen sie Rechenaufgaben wie Gedichte auswendig, zählen sie mit Fingern aus, entwickeln eigene - umständliche oder falsche - Rechenschemata.
Michelle lernt seit 2005 in einer Einzeltherapie im privaten ZTR-Institut. Zwei bis drei Jahre wird es dauern, bis sie den Anschluss an den Schulstoff erreicht. Finanziert wird die Therapie wegen der seelischen Auswirkungen in ihrem Fall vom Jugendamt. Michelles Probleme wurden früh erkannt. Nicht die Regel, sagt Steffen. "Für viele ist Rechenschwäche über Jahre die reinste Tortur. Oft bleibt sie lange unerkannt, weil schulisches Kriterium nur das richtige Ergebnis ist." Das lasse sich anfangs auch durch Zählen oder stures Auswendiglernen erzielen. Wird das Problem später offensichtlicher, heiße es meist üben, üben, üben. "Die Hölle, zumal Üben bei Rechenschwäche nicht hilft", so Steffen. Weil die Ursache unerkannt ist, das Grundverständnis für Zahlen fehle. Auch Mediziner oder Psychologen würden Zusammenhänge häufig falsch deuten. "Wenn Betroffene älter sind, laufen sie als ,Blindflieger' durch den Alltag. Bei 500 minus 498 kann dann alles rauskommen - von 120 bis 500", so Steffen. Nicht selten folgen soziale Ausgrenzung, fehlende Abschlüsse, Arbeitslosigkeit, seelische Beeinträchtigungen.
Effektive schulische Möglichkeiten sieht Steffen nur in der ersten Klasse. "In jeder Grundschule sollte ein Lehrer eine qualitative Diagnose durchführen können", fordert er. "Wir müssen auf das Problem reagieren", sagt Bernd Küster, Referatsleiter im Kultusministerium Sachsen-Anhalts. In den vergangenen Jahren habe sich Weiterbildung auf Lese-Rechtschreib-Schwäche und ein Netz ausgebildeter Pädagogen in Grundschulen konzentriert. "Wir müssen gleiches auch für die Rechenschwäche aufbauen", so Küster. In der Fortbildung arbeitet das Ministerium mit dem ZTR zusammen. Mehr als 90 Prozent der Betroffenen kann geholfen werden, sagt Steffen. Michelle ist inzwischen optimistisch, auch eine Zwei in Mathe schaffen zu können.
Forschungsergebnisse stellt das ZTR Lehrern, Jugendämtern, Psychologen, Ärzten und Eltern am 16. November ab 17 Uhr im Thomas-Müntzer-Gymnasium Halle vor.