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Raquel J. Palacio Raquel J. Palacio: Das Wunder in der fünften Klasse

Von Juliane Gringer 09.03.2013, 12:22

Halle/MZ - August Pullman, Spitzname Auggie, ist zehn Jahre alt und er sieht schrecklich aus: Sein Gesicht ist schwer entstellt, von Geburt an. Auch viele Operationen haben daran nicht viel ändern können. Wie abstoßend er wirken muss, das kann man sich als Leser nur vorstellen, es wird im Buch nicht genau beschrieben. Und wahrscheinlich stellt man es sich nicht mal schlimm genug vor.

Auch wenn die meisten Leute in seiner Umgebung sich bemühen, so normal wie möglich mit ihm umzugehen und sich nichts anmerken zu lassen: Wenn sie Auggie das erste Mal begegnen, sieht der Junge es ihnen immer für einen kurzen Moment an den Augen an, wie sie bei seinem Anblick erschrecken. Was tut er? Er hat sich ein langes Pony wachsen lassen, mit dem er wenigstens die Augen verdecken kann. Und er nimmt es mit einer unerschütterlichen Größe, die vielleicht nur so kluge und herzensgute 10-Jährige wie er besitzen können.

Das Cover dieses Buches zeigt einen Jungen, der sich einen Pappkarton über den Kopf gezogen hat. Die New Yorker Autorin Raquel J. Palacio hat 20 Jahre lang solche Cover von Büchern gestaltet, bevor sie beschlossen hat, selbst zu schreiben. Die Begegnung mit einem besonderen kleinen Mädchen war die Initialzündung für den Beginn ihres Schreibens. Herausgekommen ist ein Buch mit dem schönen Titel „Wunder“ und ohne Pathos kann man es als kleines Wunder bezeichnen, was hier auf knapp 400 Seiten passiert.

Auf ganz wundervolle Weise nämlich nimmt diese Geschichte uns mit in das Leben und die Seele eines beeindruckenden kleinen Jungen. Raquel J. Palacio, selbst Mutter von zwei Söhnen, erzählt so feinsinnig und mit einem sehr charmanten Witz von ihm und seiner Familie, dass man als Leser August sehr zu mögen beginnt und am liebsten zwischen die Seiten kriechen und sich an Auggies Seite stellen will, um ihn gegen die ganzen Ungerechtigkeiten und Gemeinheiten dieser Welt zu verteidigen. Doch Auggie braucht das gar nicht, er bekommt sein Leben sehr gut alleine auf die Reihe.

Manchmal hat er aber auch große Angst. So wie jetzt, als er in die fünfte Klasse der Schule gehen soll. Seine Eltern haben es beschlossen. Bisher hat seine Mutter ihn zu Hause unterrichtet, aber nun finden sie und sein Vater, dass er den heimische Schutz verlassen und sich dem Alltag mit anderen Mitschülern aussetzen soll. Die Eltern haben diesen Plan heimlich gefasst, sie haben ihm sogar heimlich die Einstellungsprüfung für die Schule als Intelligenztest untergejubelt. Auggie fühlt sich verraten, als er davon erfährt, dass er schon an der Schule angemeldet ist und dort erwartet wird. Doch er wagt es, sich den Blicken der anderen Kinder dort und der neuen Umgebung zu stellen. Denn auch wenn Auggie Angst hat: Er spürt, dass er diesen Weg jetzt gehen muss. Belohnt wird er mit einem spannenden neuen Lebensabschnitt, der nicht ohne Hindernisse abläuft, aber auch sehr bereichernd ist.

Geschrieben ist die Geschichte für junge Leser ab zehn Jahren und sie können sicher eine Menge von dem „Wunder“ für sich mitnehmen. Doch auch ältere und selbst erwachsene Leser finden hier einen durchweg faszinierenden Stoff. Palacio erzählt sehr angenehm: unaufgeregt, dabei absolut ehrlich und unglaublich liebevoll.

Sie lässt nicht nur Auggie selbst zu Wort kommen, sondern in einzelnen Passagen unter anderem auch seine 15-jährige Schwester Via sowie Freunde von ihr und Auggies neuen Freund Jack, den er in der Schule kennen lernt. Sie alle beschreiben aus ihrer Perspektive, wie sie Auggie erleben und was sie an ihm schätzen. Was dieses Buch schafft: Es zeigt, wie man die Stärken eines Menschen entdecken kann, ohne die Schwächen zu ignorieren - wie man Wunder auch dort erkennt, wo viel Leid ist und wie man sie wahr werden lassen kann.