Perspektiven Perspektiven: Die Wossis
THALE/WEISSENFELS/MZ. - Irgendwann, mitten im Gespräch, klingelt André Ködels Handy. Da ist dieser markante Ton, der plötzlich im Raum hängt. Ködel grinst und sagt nur ein Wort: "Elsterglanz". Das Komikerduo aus Sachsen-Anhalt, es ist wohl auch ein Stück Heimat für den 35-Jährigen. Gerade sitzt er im Wohnzimmer seiner Mutter in Weißenfels (Burgenlandkreis). In der Küche entstehen seine Lieblingsgerichte - wie das so ist, wenn Sohnemann nur zwei, drei Mal im Jahr da ist.
Seit 1996 lebt der Braumeister in den alten Bundesländern. Dort, wo seine Lieblingsbuletten Frikadellen heißen. Wo er Freunde beim Grillen damit aufzieht, Roster und Rostbrätl bestellen zu müssen statt Rote und Schwenker. "Meine Heimat ist immer noch hier, logisch", sagt er. "Aber da drüben ist mein Zuhause." André Ködel fühlt sich wohl, wo er jetzt lebt: im pfälzischen Bellheim, einem 9 000-Seelen-Dorf.
Gut 120 Kilometer von Weißenfels entfernt erzählt Lars Jakobi seine Geschichte. In Thale (Harz) lebt der 37-Jährige seit acht Wochen mit seinem Vater in einer Drei-Raum-Wohnung. Wie blöd man sein könne, in den Osten zurückzugehen, hat er sich in einem Internetforum von ausgewanderten "Ossis" vorwerfen lassen müssen. Das ärgert ihn - maßlos. "Seitdem wir zurückgekommen sind, geht es mir besser", sagt er. Fast 20 Jahre hat der gebürtige Harzer in Hessen gelebt.
Ködel und Jakobi - zwei Männer, die eines gemeinsam haben: der Job hat sie einst in den Westen geführt. Ködel, als er nach der Lehre bei der Weißenfelser Felsbräu GmbH den Arbeitsplatz verlor. Jakobi, als für seine Eltern kurz nach der Wende das Aus beim Konsum und in der Thalenser Hütte kam. Der damals 18-Jährige ging mit ihnen, beendete die auf dem Hexentanzplatz begonnene Kellner-Lehre in einem Hotel in Gießen.
Von da an unterscheiden sich die Lebenswege der Männer. Ködel ist froh, den erfolglosen Ost-Bewerbungen um einen Job in seinem Metier und der Zeitarbeit entkommen zu sein. Eigentlich will er nicht weg aus Sachsen-Anhalt, von den Freunden, für die er nun scherzhaft der "Wossi" ist, von der Familie. Dann geht er doch. 2 100 D-Mark bei einer Brauerei in Pirmasens, "das war auch viel mehr als hier", sagt er. Seitdem, mit einer Auszeit beim Bund, hat er mehrere Stationen hinter sich: Bellheim, Passau, wieder Bellheim, dazwischen die Meisterschule in München. "Ich bin einer der wenigen, die gern arbeiten gehen", sagt er.
Jakobis Weg im Westen verläuft nicht ganz so reibungslos. Beruflich läuft es zwar anfangs gut, er findet auch eine Freundin, der das Ost-West-Gehabe fern liegt, die er heiraten will. Doch ein Unfall zerstört im August 1993 alle Träume: Die Freundin stirbt, Jakobi wird schwerst verletzt, liegt drei Monate im Koma. Mühsam sucht er den Weg zurück ins Leben, mit Reha, Umschulungen, Frühverrentung, Nebenjobs als Kellner - in Deutschland und Österreich. Dann folgen neue Schicksalsschläge: 2008 stirbt die Mutter, im Dezember 2009 der sieben Jahre ältere Bruder. Es ist Sommer 2010, als Jakobi mit seinem Vater zwei Wochen Urlaub in seinem Heimatort Bad Suderode macht und sich zur Rückkehr entschließt. "Nach 20 Jahren, da haben einen die Leute hier noch erkannt. Ich wurde an allen Ecken angesprochen, selbst von Menschen gegrüßt, die ich gar nicht kenne", erinnert er sich. Da war das Gefühl dazuzugehören, das er "drüben" oft vermisst hat.
Es sind sehr unterschiedliche Erfahrungen, die die beiden Ossis im Westen machen. Da ist der aufgeschlossene André Ködel, der nach der Wohnung stets sofort einen Fußballverein sucht. "Zack, hatte ich immer Anschluss und gute Freunde", sagt er. Ködel passt sich an, ohne sich zu verbiegen. Er sagt in Bayern "Grüß Gott", obwohl er an den gar nicht glaubt. "Man muss nicht auf Teufel komm raus das Sächsische raushängen lassen", sagt er. Sachse - eigentlich Sachsen-Anhalter - bleibe er trotzdem. Auch wenn sich inzwischen das typisch pfälzische "A jo" und das "schaffen gehen" in seinen Wortschatz eingeschlichen haben. Ost-West-Sprüche ärgern ihn nur selten. Einmal hatte er in Passau ein Gespräch mit einer Kundin, die ihn - als ihr die Argumente ausgingen - anherrschte: "Reden Sie bayrisch mit mir!" Meist erlebt er die Sprüche aber als Spaß. Streit mit denen, die auf Vorurteilen beharren, geht er aus dem Weg. Mitunter, erzählt Ködel, greifen dann sogar schon seine Westfreunde für ihn ein.
Lars Jakobi indes hat Probleme, wirkliche Freunde unter Gleichaltrigen zu finden. Auch er sieht sich als aufgeschlossenen Menschen, engagiert sich unter anderem in einem Jugendhaus in Hessen. Letztlich sei es aber die Generation ab 50 gewesen, mit der er am besten klarkam, sagt er. "In meinem Alter, da wissen viele nicht einmal, wo Potsdam oder Cottbus liegen." Andere hätten ihm bis zuletzt vorgeworfen, dass sie "wegen Euch" seit 20 Jahren Soli-Zuschlag zahlen müssten. Hilfe habe er zwar auch erlebt, "aber am besten musste man dort bald zurückhelfen."
Seine Mutter, erzählt Jakobi, habe nie zurückgewollt in den Osten. "Sie hat nicht begriffen, dass sich der Lebensstandard hier im Vergleich zu 1990 auch geändert hat." Auch er selbst zögerte vor einigen Jahren: Der Verdienst - selbst in Nebenjobs - hätte nicht ausgereicht. Heute sieht der 37-Jährige seine Perspektive nicht in erster Linie im Job. Sagt sich das leicht, weil egal ist, ob er in West oder Ost Rente bezieht? "Ich wäre auch ohne Handicap zurückgekommen", sagt Jakobi. In sieben Nebenjobs könnte er arbeiten, die Angebote seien da. Er hat Freunde, macht im Faschingsclub mit, arbeitet nebenbei. Schreibt ein Buch über sich - "Steh-Auf-Männchen" soll es heißen. Manchmal erlebt er Frust bei den Menschen, manchmal denkt er auch "typisch Osten", wenn's im Kundenservice hakt. Aber er ist angekommen und glücklich darüber.
André Ködel weiß, dass einige aus seiner früheren Schulklasse inzwischen zurück im Osten sind. Er selbst schließt das für sich zwar nicht aus, geht es aber nicht offensiv an. Der Job in Bellheim macht Spaß, der Lohn stimmt, die Freizeit ist ausgebucht - als Schiedsrichter, in Pokerrunden, mit Freunden. Ost oder West - wird es irgendwann egal sein? "Wir erleben es nicht mehr", glaubt er. "Nicht, solange das Lohngefälle noch da ist."