1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Niemals aufgeben: Niemals aufgeben: 57-jähriger aus Sachsen ist dienstältester' Dialysepatient

Niemals aufgeben Niemals aufgeben: 57-jähriger aus Sachsen ist dienstältester' Dialysepatient

Von Iris Stein 25.04.2015, 14:13
Seit 36 Jahren auf die Dialyse angewiesen, aber nicht verzweifelt, Joachim Reiche.
Seit 36 Jahren auf die Dialyse angewiesen, aber nicht verzweifelt, Joachim Reiche. Andreas Stedtler Lizenz

Freundlich lächelnd steht er in der Tür seiner Wohnung in Bad Düben, gestützt auf zwei Krücken. Keine Spur von Traurigkeit, sondern ehrliche Freude über den Besuch und die damit verbundene Abwechslung. Die Wohnung, das ist im Moment die Welt für Joachim Reiche.

Und wer ihn näher kennt oder kennenlernt, der weiß, dass er damit gar nicht zufrieden ist. Aber hadern mit dem Schicksal? In Traurigkeit versinken? Nicht er! Das hat er nie zugelassen, dass er mut- und hoffnungslos wurde. Also auch nicht jetzt, wo die Kreise des 57-Jährigen so klein geworden sind. Immerhin: Mit seinem feinen Humor würde er an dieser Stelle wohl bemerken, dass er lange genug Zeit hatte zu lernen, mit Einschränkungen umzugehen. Meist waren sie für ihn nicht etwa Grund zur Resignation, sondern Ansporn, etwas daraus zu machen. Das muss man erstmal hinkriegen!

Aber der Reihe nach. Die Fakten sind schnell erzählt. „Ich war noch Jugendlicher, da wurde festgestellt, dass ich Schrumpfnieren hatte“, beginnt sein Bericht. Schon mit 19 Jahren wusste er, dass ihm irgendwann nur noch die Dialyse ein Überleben möglich machen würde. Aber krank? Das wollte er nicht sein, sondern so leben wie alle jungen Leute in diesem Alter.

Begrenzte Möglichkeiten

Das führte zu einer Menge Konfliktstoff mit den Eltern. „Mein Vater wollte mich nicht mal tanzen gehen lassen“, erzählt er aus der Vergangenheit. Eine Weile ging der Alltag mit der Krankheit noch gut, dann kam das Unvermeidliche. „Mit 21 Jahren kam ich an die Dialyse, und so bin ich heute wohl der ,dienstälteste’ Dialysepatient, zumindest von Sachsen“, stellt der schlanke, sehnige Mann trocken fest.

Wie seine Zukunft verlaufen würde, wusste er nicht, als er sich vor mittlerweile 36 Jahren zum ersten Mal einer Blutwäsche unterziehen musste. „Ich hätte ja nie gedacht, dass mein Leben überhaupt so lange dauert“, meint er. Und lässt zugleich ganz sachlich durchblicken, dass er sich nicht mehr viel Zeit gibt, seit es ihm nun so schlecht geht.

Doch daran will er keinen Gedanken verschwenden. Vielmehr sorgt er sich, wie die Welt sein wird, ohne ihn. „Welche Spuren ich hinterlasse, woran sich andere erinnern, wenn ich nicht mehr da bin“, sagt er mit wachen, fragenden Augen, um sich zu vergewissern, ob sein Gegenüber versteht. Denn das möchte er schon gern: etwas zurücklassen, das bleibt. Das ist nur folgerichtig, schaut man sich an, wie er umging mit der Krankheit, der Abhängigkeit von der Dialyse, den Begrenztheiten und den Möglichkeiten in seinem Leben.

Ökonomie-Studium fortgesetzt

Als der im nahen Audenhain Geborene in seinem jetzigen Wohnort zum ersten Mal zur Dialyse musste, war er noch Student an der Agraringenieurschule in Weimar. Von seinem ursprünglichen Berufswunsch Forstwirt hatte er sich zu diesem Zeitpunkt schon verabschieden müssen. Bald wusste er: Auch mit dem Direktstudium war es vorbei. Erst viele Jahre später fragte er sich, ob die Krankenschwestern damals so mitfühlend und freundlich zu ihm waren, weil sie seine Zeit für begrenzt hielten.

Mit der heutigen Lebensqualität - auch wenn sie nach wie vor eingeschränkt ist - lässt sich die Situation von Dialysepatienten in den späten 70er Jahren der DDR nicht vergleichen. Und auch die Lebenserwartung der Kranken ist heute ungleich höher. Joachim Reiche sah nur allzuoft Leidensgefährten einfach verschwinden. „Ich habe das Sterben vieler Freunde aushalten müssen und hätte seinerzeit nie gedacht, dass ich mal das Jahr 2000 erlebe. Niemand klärte mich so recht über meine Lage und meine Zukunft auf.“

Sein Ökonomie-Studium setzte er Ende 1979 als Fernstudent fort, aber ausgefüllt fühlte er sich nicht. Wie auch, als Invalidenrentner mit 21? Also suchte er sich ein Hobby und fand es mit der Kaninchenhaltung, die ihm außerdem manche Mark zur Aufbesserung seiner Rente einbrachte.

Fast den Mut verloren

Im Sommer 1981 geschah dann das, was wohl jeder Dialysepatient ersehnt: Es gab eine Spenderniere für den jungen Mann. Allein, er wurde nicht rechtzeitig gefunden, saß mit seinem kleinen Bruder bei einem Olsenbandenstreich im Kino . . . Nur wenige Monate später war es jedoch erneut soweit. Und dieses Mal konnte er rechtzeitig alarmiert werden. Das Glück war ihm dennoch nicht hold. Die im Oktober 1981 in Halle transplantierte Niere funktionierte zwar, allerdings nur kurze Zeit. Nach vier Wochen wurde sie wieder entfernt und Joachim Reiche ahnte, dass es der einzige Transplantationsversuch seines Lebens bleiben würde.

„Damals hätte ich dann doch fast allen Mut verloren“, erzählt er. „Ich brach das Fernstudium ab, weil ich glaubte, nun nicht mehr viele Jahre zu haben und noch ein bisschen leben und etwas erleben wollte.“ Doch er weiß heute, „dass man sich nur selbst helfen kann, wenn das Jammertal sehr tief ist“. Das hat er schon zu dieser Zeit und später immer wieder im Leben versucht, und das möchte er weitergeben, ob sie nun Dialysepatienten sind wie er selbst oder an einer anderen schweren Krankheit leiden.

Von München nach Venedig

Joachim Reiche kann stundenlang erzählen: von seiner Ehe und seinem Adoptivsohn („meine schönsten Jahre“), von der Verzweiflung, als er nach dem Scheitern der Beziehung wieder allein lebte. Von den vielen Versuchen, trotz seiner Einschränkungen beruflich Fuß zu fassen mit einer Versicherungsagentur, die er bis heute betreibt. Auch das Fernstudium hat er mit ein paar Jahren Verspätung doch erfolgreich beendet. Er spricht von seinen Hobbys und Unternehmungen. „Wenn eines nicht mehr ging, habe ich mir was Neues gesucht“, sagt er. Aufgegeben hat er nie.

Nicht einmal, als es körperlich richtig anstrengend wurde. Schon immer ist der drahtige Mann gern zu Fuß unterwegs gewesen. Irgendwann tauchte da diese kühne Idee auf, es einmal wissen zu wollen, was man auch als Kranker bewältigen könnte. Warum nicht das scheinbar Unmögliche wagen, fragte er sich und machte sich 2010 auf, von München nach Venedig zu wandern.

Der Organisationsaufwand war immens, denn schließlich musste für die gesamte Wanderzeit alle zwei Tage eine Dialysemöglichkeit gefunden werden. Sein Freund und Mitpatient Mario Lippold war zwar nicht per pedes, aber als Unterstützung während der gesamten Tour mit dabei. Und am wichtigsten für beide: Sie waren nicht nur für sich unterwegs, sondern um auf Dialyse und die Notwendigkeit von Organspende aufmerksam zu machen.

Buch geschrieben

In einem Buch haben sie ihre Erlebnisse niedergeschrieben. Und es gibt noch einen zweiten Band, in dem Joachim Reiche aus seinem Leben erzählt. Keine große Literatur, nur seine Erinnerungen. An die Kindheit in den 60ern und 70ern, an seine Jugend, die Umstände der Krankheit, die vielen gesundheitlichen Probleme, seinen Alltag. Geholfen hat ihm stets sein Glaube, um den er sonst nicht viele Worte macht. Doch Gott sei ihm nahe, sagt er, und das zu vermitteln, wichtig.

Immer wieder rappelte er sich nach Rückschlägen auf, suchte Neues, wenn körperliche Einschränkungen zunahmen und er etwas nicht mehr konnte. Kaninchen züchten, walken, Akkordeon spielen, Fahrradtouren - alles vorbei heute, wo er an Krücken geht, und auch die ehrenamtliche Arbeit für den Dialyseverband nicht mehr schafft. „Ich bin ja schon über 90“, scherzt er da, „denn die Jahre an der Dialyse zählen doppelt.“

Sei’s drum, er hatte auch diesmal wieder eine Idee: Seit vergangenen Sommer singt er nun im Chor, in der Kantorei von Authausen. „Als einziger Mann unter lauter Frauen“, meint er verschmitzt. Auf den Pilgerweg nach Santiago de Compostela - ein alter Traum - kommt er wohl nicht mehr. Aber für den Chor reicht die Kraft. Noch.

„Königsberger und Cola“, 15 Euro, und „Quo Vadis Glück“, 19 Euro (davon Spenden an diverse Projekte), beide telescope Verlag

Dreimal in jeder Woche muss Joachim Reiche zur Dialyse.
Dreimal in jeder Woche muss Joachim Reiche zur Dialyse.
Stedtler Lizenz
Rast auf dem Weg nach Venedig 2010 (o.). Erlebnisse der Tour und seines Lebens schrieb Joachim Reiche als Bücher nieder (l.).
Rast auf dem Weg nach Venedig 2010 (o.). Erlebnisse der Tour und seines Lebens schrieb Joachim Reiche als Bücher nieder (l.).
privat Lizenz