Nach Gasexplosion Nach Gasexplosion: Wie eine zweite Schockwelle
Halle/MZ. - Die Nachricht von W.s Freilassung löste in Halle eine Schockwelle der Empörung aus. "Dass dieser Mann entlassen worden ist, finde ich schlimm", sagt Tatjana Karlovski. Sie erlebte in einem Nachbarhaus vor vier Jahren die verheerende Gasexplosion in der Stephanusstraße. "Wir haben lange gebraucht, bis wir unseren Hausstand wieder in Ordnung hatten", sagt sie. Auch Nachbar Manfred Pelcyk schüttelt nur fassungslos den Kopf.
Bewohnerin Stephanusstr. 2002, drei Tage vor Heiligabend: Kurz vor elf Uhr erschüttern zwei gewaltige Explosionen die Innenstadt. Wo ein massives dreistöckige Gründerzeithaus in der Stephanusstraße stand, ragt nur noch ein Berg rauchender Trümmer auf.
Die Druckwelle der Explosion drückt Giebel und Wände der Nachbarhäuser ein, noch hunderte Meter entfernt zersplittern Fensterscheiben. 100 Häuser werden zum Teil schwer beschädigt. Ein 52-jähriger Mann wird aus seiner Wohnung auf die Straße geschleudert und schwer verletzt. Dass bei dieser Katastrophe niemand stirbt, gilt in dem dicht besiedelten Wohnviertel schon bald als Weihnachtswunder.
Die Spurensuche gestaltet sich für die Kriminologen auf dem zerstörten Gelände schwierig. Erst im März 2004 wird Hausbesitzer Norbert W. als Tatverdächtiger in Untersuchungshaft genommen, im November beginnt der Prozess vor dem Landgericht Halle. W. soll mit einem Toaster und gelockerten Leitungen die Explosion ausgelöst haben. Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass er die Versicherung um 1,3 Millionen Euro prellen wollte. Schon zweimal sollen ihm Häuser und Autos abgebrannt sein und er Versicherungssummen kassiert haben. Während des anderthalb Jahre dauernden Prozesses legt W. kein Geständnis ab. Doch die Aussagen von 152 Zeugen und sechs Gutachtern reichen Richter Klaus Braun aus. Er verurteilt im Dezember 2005 W. zu 15 Jahren Haft: wegen versuchten Mordes, Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion und Betruges.
Doch Brauns Urteilspruch gilt noch nicht: W. hat dagegen Revision eingelegt vor dem Bundesgerichtshof (BGH). Bis zur BGH-Entscheidung ist das Urteil nicht rechtskräftig. Bis dahin sollte er hinter Gittern bleiben. Dagegen hat W. protestiert. Und die Richter des Oberlandesgericht in Naumburg gaben ihm Recht und ließen ihn frei bis zur Entscheidung über den Revisionsantrag. Nach Meinung des OLG dauerte der eineinhalbjährige Prozess zu lange. An zwei statt nur einem Tag pro Woche hätte verhandelt werden müssen. Außerdem habe es viel zu lange gedauert, bis W. sein Urteil schriftlich bekam, nämlich sechs Monate. Das OLG stützt sich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht.
Diese Anforderungen aus Karlsruhe macht Sachsen-Anhalts Justizministerin Angela Kolb (SPD) für die Freilassung W.s verantwortlich. Das Gericht in Halle treffe keine Schuld. Dass in solchen Fällen zweimal statt nur einmal pro Woche verhandelt werden müsse, hätte das Verfassungsgericht erst im November 2005 festgelegt. Auch dass es ein halbes Jahr gedauert hat, bis das Urteil schriftlich vorlag, sei nicht zu verhindern gewesen. "Zwei von drei Richtern der Strafkammer wurden nach dem Prozess pensioniert." So habe die übrig gebliebene Richterin alleine das Prozessprotokoll und das schriftliche Urteil anfertigen müssen - über 600 Seiten. Aus rechtlichen Gründen habe man ihr keine Hilfe zur Seite stellen können. Also alles nur dumm gelaufen? "Ich kann die Empörung darüber verstehen", so Kolb. "Es ist unhaltbar, dass jemand auf freiem Fuß ist, der zu 15 Jahren verurteilt wurde." Sie will mit den Präsidenten der Landgerichte beraten, wie eine Wiederholung der Panne verhindert werden kann.
In der Stephanusstraße ist der Ärger groß. "Die Justiz", so Cordula Eißen, "weiß doch nicht mehr, was sie macht."