Kommentar zu 30 Jahre Mauerfall Nach dem Jubel kommt der Alltag. Die deutsch-deutsche Ehe wird gerade auf eine Probe gestellt, findet MZ-Chefredakteur Hartmut Augustin.

Berlin/Halle (Saale) - In diesen Tagen tauchen die Bilder vom 9. November 1989 wieder auf. Vom Jubel, als die Mauer endlich fiel. Obwohl wir Deutschen uns damals durch die lange Zeit der Teilung ziemlich fremd waren, überbrückte die Freude das Trennende. Menschen fielen sich in die Arme und waren glücklich wie frisch Verliebte. Und heute? Der Freudentaumel mündete bei manchen in Ernüchterung oder schlug sogar in Verbitterung um.
Am 9. November wurde eine deutsch-deutsche Ehe angebahnt, die wahrscheinlich vergleichbar ist mit einer ganz normalen Partnerschaft. Wenn die erste Verliebtheit verflogen ist, kommen die Mühen des Alltags. Und plötzlich entdeckt man bei dem anderen ein paar Macken …
Natürlich gibt es viele Dinge, die besser laufen könnten in der deutsch-deutschen Ehe. Ganz sicher wird die Lebensleistung der Menschen im Osten noch nicht so gewürdigt, wie es anständig wäre. Die Tatsache, dass die Beschäftigten in den neuen Bundesländern - auch in erfolgreichen Branchen - teilweise deutlich weniger verdienen, muss sich ändern.
30 Jahre deutsche-deutsche Einheit - vieles geht besser
Zu viele junge und gut ausgebildete Menschen verlassen immer noch den Osten, weil sie im Westen mehr verdienen. Die negative demografische Entwicklung setzt sich so immer weiter fort. Die Folgen für Kleinstädte und ländliche Regionen sind in Sachsen-Anhalt deutlich zu spüren.
Ja, es gibt manches, was besser sein müsste. Doch wer klug ist, stellt seine Beziehung wegen einiger Probleme nicht grundsätzlich in Frage, sondern rauft sich zusammen. Das sollten wir auch im vereinigten Deutschland tun.
Ein Thema liegt mir als Chefredakteur der MZ ganz besonders am Herzen. Im Herbst 1989 haben wir von Meinungs- und Pressefreiheit geträumt. Heute scheint bei vielen die Erinnerung an unfreie Zeiten verblasst zu sein. Daran, dass öffentliche Kritik am herrschenden System mit Haft oder gesellschaftlichen Sanktionen geahndet werden konnte.
An sich ist es schön, dass negative Erinnerungen verblassen. Wenn ich heute höre, dass Menschen glauben, ihre Meinungsfreiheit sei erheblich eingeschränkt und habe sich seit 1990 nicht verbessert, dann wünsche ich mir die alten Zeiten zurück.
9. November 1989, ein Glückstag für alle Deutschen
Natürlich nicht wirklich, nur zur Erinnerung! Und ich möchte denen zurufen: Habt ihr vergessen, was in ostdeutschen Medien früher berichtet worden ist? Wie Partei und Staat nicht nur in Redaktionen, sondern in öffentlichen Institutionen eine Zensur ausgeübt haben? Zum Glück sind wir heute weit von solchen Verhältnissen entfernt.
Der 9. November 1989 war - bei allen Problemen - ein Glückstag für alle Deutschen. Wir sollten uns öfter mal gegenseitig versichern, wie schön es ist, dass es den anderen gibt. Eben wie in einer guten Ehe. (mz)
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