MZ-Serie zur Völkerschlacht - Teil 4 MZ-Serie zur Völkerschlacht - Teil 4: Das Schreien der Verwundeten

leipzig/MZ - Soldaten, Kämpfe, Übergriffe, Plünderungen, das Elend der Verwundeten, der Typhus - schon seit Monaten war es Alltag in Leipzig wie in Städten und Dörfern ringsum in diesem Schicksalsjahr 1813. Nicht zuletzt war den Leipzigern das Elend von Kriegsgefangenen vor Augen.
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Seit Anfang September rund 5 000 Gefangene der Verbündeten in die Stadt verfrachtet worden - Preußen, Österreicher, Russen. Soldaten, die den Truppen Napoleons bei Dresden in die Hände gefallen waren. Ende September war den Leipzigern zudem ein Korps von knapp 2 000 Franzosen in Kost und Logis aufgedrückt worden - auf jeden Einwohner kam schließlich mehr als ein fremder Soldat.
Johann Daniel Ahlemann, Totengräber auf dem Alten Johannisfriedhof, wo schon während des Dreißigjährigen Krieges schwedische Truppen gewütet hatten, hat das Erlebte aufgeschrieben. Dass nämlich „die von den Franzosen gemachten Gefangenen, viele Tausende an der Zahl, in den Gottesacker eingesperrt“ wurden. Und zwar in den Schwibbögen der nach Camposanto-Vorbild errichteten Begräbnisstätte. So wurde „bei den Leichen gekocht und gebraten“.
Doch die vier Tage der Völkerschlacht vom 16. bis 19. Oktober sollten die bislang grausamsten Erlebnisse und Leiden des Krieges für die Menschen in einem Maße übertreffen, wie es keine Phantasie ersinnen konnte. So wie der Leipziger Totengräber haben viele das Geschehen, das sie sahen, aufgeschrieben. Sie überliefern uns das Grauen im O-Ton.
So schildert der berühmte Arzt Johann Christian Reil, was sich in den Lazaretten abspielte – falls die Verwundeten es bis dahin geschafft hatten. Der Mediziner, damals Leiter der Militärhospitäler in Leipzig und Halle, notierte: „Die zügelloseste Phantasie ist nicht imstande, sich ein Bild des Jammers in so grellen Farben auszumalen, als ich es hier in der Wirklichkeit vor mir fand. Viele Verwundete sind noch gar nicht, andere werden nicht alle Tage verbunden. Die Binden sind aus grauer Leinwand von Bad Dürrenberger Salzsäcken geschnitten, die die Haut mitnehmen, wo sie noch ganz ist. Verwundete, die nicht aufstehen können, faulen an ihrem eigenen Unrat ein.“
Tote und Verwundete, sie waren in diesen nasskalten Oktobertagen allgegenwärtig. In Kirchen, Schulen oder einfach auf der Straße. Ärztlich versorgt, wenn überhaupt, notdürftigst im Eilverfahren. Im Leipziger Megapanorama des Künstlers Yadegar Asisi kann man sich buchstäblich ein Bild machen von Chaos, Leid und Zerstörung in dieser Zeit. Das kleine Lazarettmuseum Seifertshain bei Leipzig ist speziell den unglückseligen Verwundeten gewidmet und zeigt, unter welch unvorstellbaren Bedingungen sie um ihr Leben rangen.
„Wie Kälber“ seien sie vom Schlachtfeld gekarrt worden, schreibt Reil. Bei Operationen ersetzten ein Schluck Branntwein oder ein Beißholz die Narkose. Von Napoleons Leibarzt Jean Larrey, der als bester Chirurg auf dem Schlachtfeld galt, wird berichtet, dass er Amputationen im Zwei-Minuten-Takt erledigte. Letztlich sollen in den Lazaretten mehr Soldaten gestorben sein als in den Kämpfen. Wundstarrkrampf, Fieber, Typhus brachten den Tod – auch für den Arzt Reil selbst.
Von der Lage in Leipzig gibt die Kaufmannsgattin Caroline Oldenbourg (1779 – 1850) in einem Brief an ihre Mutter ein lebendiges Stimmungsbild. Zwar sei die Familie am Leben, schreibt die Mutter von sechs Kindern darin, doch ringsum gebe es nur „verbrannte Dörfer, ruinierte Gärten.“ Die wenigen Häuser, die noch stünden, seien unbrauchbar. „Dies sind die Andenken, die uns Napoleon zurückgelassen hat, sein Abzug aus Sachsen gleicht dem Zug des Teufels nach der Hölle.“
Literatur: Die Völkerschlacht in Augenzeugenberichten – Vor Leipzig 1813 (Hrsg. Karl-Heinz Börner, Verlag der Nation, ISBN-Nr. 978-3373005339)