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MZ-Serie MZ-Serie: Ende der Einzelkämpfer

Von Bärbel Böttcher 16.10.2012, 17:51
Artikel vom 16.10.12 Gerhard Junge in seiner Praxis. Links im Bild Renate Kreuz (links) und Gudrun Wesemeier. Beide sind als «Schwester Agnes» unterwegs.
Artikel vom 16.10.12 Gerhard Junge in seiner Praxis. Links im Bild Renate Kreuz (links) und Gudrun Wesemeier. Beide sind als «Schwester Agnes» unterwegs. ANDREAS STEDTLER Lizenz

Oschersleben/MZ. - Etwa 5 000 Patienten im Quartal behandelt das Praxisteam Gartenstraße aus Oschersleben (Bördekreis). Sie kommen aus der Stadt und aus einem Umkreis von bis zu 15 Kilometern. "Momentan ist die Zahl relativ stabil", sagt Gerhard Junge, einer der sechs Ärzte, die hier arbeiten. Aber er weiß, was auf ihn und seine Kollegen zukommt. "Ich kenne allein im Stadtgebiet Oschersleben fünf oder sechs Mediziner, die bereits im Rentenalter sind", erzählt er. Und das setze sich im Umland fort. "Über kurz oder lang ist bei denen Zapfenstreich und ein Teil ihrer Patienten wird auch bei uns vor der Tür stehen. Darauf müssen wir uns einstellen", betont er.

Junge zeichnet da ein Bild, das für die meisten Gebiete in Sachsen-Anhalt typisch ist. Das Durchschnittsalter der 1 400 Hausärzte im Land liegt nach Aussagen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) gegenwärtig bei etwa 53 Jahren. 359 von ihnen sind 60 Jahre und älter. 187 haben bereits das 65. Lebensjahr überschritten. "Es ist absehbar, dass sie demnächst in den Ruhestand gehen", sagt KV-Vorsitzender Burkhard John. "Jedoch", so fügt er hinzu, "für 35 Prozent der Praxen die schließen, gibt es keine Nachfolger."

Schon heute fehlten 400 Hausärzte, was zu einer enormen Überlastung der vorhandenen Ärzte führe. Nach einer Statistik des Zentralinstituts für Kassenärztliche Versorgung in Deutschland (ZI) behandelt im Bundesdurchschnitt jeder Arzt zirka 3 400 Fälle im Jahr. In Sachsen-Anhalt sind es rund 1 000 mehr.

Bringt da nicht eine insgesamt abnehmende Bevölkerung mittelfristig Entspannung? "Nein", sagt John. "Denn die Altersklasse, die besonders viel medizinische Versorgung braucht, nämlich die ab 50 Jahre aufwärts, wird ja größer. Und viele der Patienten leiden an mehreren Krankheiten gleichzeitig." Multimorbidität heißt das im Fachjargon.

Wie ist es unter den gegebenen Umständen möglich, eine effektive Versorgungsstruktur zu erhalten? Darüber hat sich Gerhard Junge, bis 2007 Einzelkämpfer in einer Praxis, lange Gedanken gemacht. Und er traf Kollegen, die die gleichen Fragen bewegten. Vier Jahre lang haben sie überlegt und diskutiert und es eigentlich immer gewusst - die Lösung heißt Zusammenschluss. 2007 zogen Junge, Doreen Steinke und Joachim Klinsmann unter ein gemeinsames Dach und legten so den Grundstein für das Praxisteam Gartenstraße, das die drei nun gemeinsam führen.

Fünf Jahre sind seitdem vergangen. "Und es war der richtige Schritt", sagt Junge. Heute gehören sechs Ärzte zum Team. Jeder der Mediziner legt in seiner Arbeit den Schwerpunkt auf ein anderes Feld: Innere Medizin, Herz-Kreislauferkrankungen, Geriatrie und Diabetologie, kleine Chirurgie, Chirotherapie, Erkrankungen des Muskel-Skelettsystems, Palliativmedizin, Hautscreening und anderes - also alles Richtungen, die ältere Menschen häufiger benötigen. Drei Ärzte und zwei Schwestern haben sich auf die Versorgung chronischer Wunden spezialisiert.

Kooperiert wird dabei unter anderem mit dem örtlichen Krankenhaus, einem Pflegedienst und - sogar im gleichen Haus ansässig - einer Physiotherapiepraxis, einem Sanitätsanbieter und einer Praxis für medizinische Fußpflege. Die Patienten der Praxis Gartenstraße, von denen knapp 50 Prozent bereits im Rentenalter sind, können hier also umfassend versorgt werden. In Zukunft vielleicht auch durch einen Hautarzt. Danach werde gesucht.

"Ein Einzelkämpfer kann das, was wir hier machen, gar nicht leisten", sagt Junge. Er denkt da auch an die Ausstattung der Praxis. Diagnostisch sei aufgerüstet worden - es gebe beispielsweise ein eigenes Labor, so dass wichtige Tests vor Ort gemacht werden könnten. Derzeit werde analysiert, ob sich die Anschaffung eines Röntgengerätes lohne. "Die ärztliche Arbeitsgemeinschaft", so ist er überzeugt, "ist fachlich und ökonomisch der Weg, der in die Zukunft führt." Zur Ökonomie gehöre übrigens auch, dass die bürokratischen Herausforderungen des Gesundheitswesens nun von gemeinsamen Praxismanagern bewältigt würden. "Die vielen Verträge, Verordnungen und Richtlinien sind von einem einzelnen Arzt gar nicht mehr zu überblicken."

Was die Ärzte leisten, wäre aber ohne ihre Schwestern undenkbar. 14 gehören zur Praxis - darunter drei so genannte mobile Praxisassistenten, im Volksmund "Schwester Agnes" genannt. Sie entlasten die Ärzte von Routine-Hausbesuchen bei Patienten, die selbst nicht in die Praxis kommen können. Sie messen beispielsweise bei Patienten den Blutdruck, nehmen Blut ab oder wechseln Verbände. Dafür sind sie speziell ausgebildet worden. Und mit dem für sie angeschafften Auto waren sie allein im IV. Quartal des vergangenen Jahres 680 Mal zu Einsätzen unterwegs.

Dem Arzt spart das unendlich viel Zeit. Deshalb ist Junge auch verärgert, dass ihre Arbeit künftig von den Kassen nicht mehr in dem Umfang wie bisher vergütet werden soll. Der Grund: "Agnes" darf nur in unterversorgten oder drohend unterversorgten Gebieten zum Einsatz kommen. Dazu gehört der Bördekreis nicht mehr. Junge versteht das nicht, obwohl es rein rechtlich derzeit so geregelt ist. "Wenn Einigkeit darüber besteht, dass Ärztemangel herrscht, dann sollte ,Agnes', die die weniger werdenden Ärzte entlastet, ohne Wenn und Aber bundesweit flächendeckend zugelassen werden", sagt er. Und hofft auf eine Lösung.

Für KV-Chef John ist das Beispiel Oschersleben ein Modell, "das zeigt, wo es hingehen soll mit der medizinischen Versorgung in ländlichen Gebieten". Dennoch werde es in den nächsten zehn, 15 Jahren bei der haus- und fachärztlichen Versorgung zu Defiziten kommen, ist er überzeugt. "Die Ärzte, die dann aus dem Berufsleben ausscheiden werden wir auch in Zukunft nicht vollständig ersetzen können", sagt er. Vielleicht könne die Neubesetzungsquote von heute 65 Prozent etwas erhöht werden. An Initiativen und Förderprogrammen dazu mangele es im Land nicht. "Es ist vor diesem Hintergrund aber extrem wichtig", unterstreicht er, "dass die finanziellen Mittel, die für die Versorgung zur Verfügung stehen, insgesamt aufgestockt werden." So oder so müssten sich die Menschen aber darauf einstellen, betont John, dass in ländlichen Regionen die Wege zumindest zum Facharzt weiter würden. Und dass die in jedem Fall mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewältigen seien, hält er zumindest für fraglich. John schwebt ein Patienten-Rufbus-System vor. "Es ist vorstellbar, dass aus bestimmten Regionen zu spezifischen Sprechzeiten von Fachärzten Busse fahren, die vielleicht sogar vor der Tür der Ärzte halten", meint er. Doch das sei allein von der KV nicht zu leisten.

Sorge bereitet dem KV-Chef, dass die Belastung der Ärzte in vielen Fachbereichen extrem zunimmt, dass sie an Grenzen stoßen und keine neuen Patienten aufnehmen können. "Wir müssen davon ausgehen, dass sich dieses Problem in den nächsten zehn Jahren noch verschärfen wird", sagt John.

Das sieht auch der Oscherslebener Arzt Junge so. Momentan ist das Praxisteam Gartenstraße gut aufgestellt und auf neue Patienten vorbereitet. Aber - der Mediziner ist 62 Jahre alt. "In drei Jahren höre ich auf - auch wenn mir das im Moment selbst unvorstellbar erscheint", sagt er. Ob er einen Nachfolger findet? Er weiß es nicht. "Es ist wie eine Lotterie."