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MZ-Interview mit Holger Stahlknecht MZ-Interview mit Holger Stahlknecht: "Insgesamt gut gelaufen"

04.07.2013, 19:14
Holger Stahlknecht (CDU), Innenminister von Sachsen-Anhalt.
Holger Stahlknecht (CDU), Innenminister von Sachsen-Anhalt. DPA Lizenz

Magdeburg/MZ - Das Wasser ist gewichen, das große Aufräumen im Gang: Die Flut wird die Menschen noch lange beschäftigen. Mit dem Leiter des Krisenstabes der Landesregierung, Innenminister Holger Stahlknecht (CDU), sprach MZ-Redakteur Hendrik Kranert-Rydzy.

Herr Minister, am hebt der letzte Landkreis den Katastrophenalarm auf. Wie fällt denn Ihre Bilanz aus?

Stahlknecht: Die Schadensbilanz ist noch nicht vollständig, bislang liegen uns Meldungen über rund 846 Millionen Euro aus den Landkreisen vor. Allein bei den Sportvereinen sind es 23 Millionen Euro. Ich gehe aber davon aus, dass wir am Ende bei zwei bis drei Milliarden Euro liegen werden.

Gab es seit 1990 eine vergleichbare Katastrophe im Land?

Stahlknecht: Ich glaube, in diesem Ausmaß ist das einzigartig gewesen. Wir hatten allein 119 000 Hilfskräfte im Einsatz - ohne die Tausenden Freiwilligen. Für Sachsen-Anhalt war es auf jeden Fall mehr als bei der Jahrhundertflut 2002. Oberst Klaus Cörbi von der Bundeswehr sagte mir, es sei auch ein größerer Einsatz als bei der Oderflut gewesen.

Es lief dabei nicht immer alles glatt: In Bitterfeld nicht, in Aken und auch nicht im Landkreis Stendal.

Stahlknecht: Es gab Fälle, in denen wir die Führung in den Landkreisen an uns gezogen haben, das ist richtig. In erster Linie dort, wo es um eine länderübergreifende Zusammenarbeit ging.

Es hieß, Sie hätten wegen Kompetenzstreitigkeit den Stendaler Landrat Carsten Wulfänger (CDU) entmachtet.

Stahlknecht: Nein. Es gab vielmehr folgenreiche Entscheidungen zu treffen, die Sachsen-Anhalt und Brandenburg betrafen. Es mussten Polder gezogen und weite Landstriche geflutet werden.

War das auch eine Lehre aus den Ereignissen an der Goitzsche?

Stahlknecht: Ja, das war zum ersten Mal in Bitterfeld der Fall, wo der auf sächsischer Seite gelegene Seelhausener See mit einem Mal in die Goitzsche überzulaufen drohte, die wiederum dann Bitterfeld geflutet hätte. Der Vize-Landrat von Anhalt-Bitterfeld und der Landrat des Landkreises Nordsachsen haben acht Stunden darüber gestritten, wer nun die Sprengung des Deiches zur Entlastung des Seelhausener Sees anordnet. In diesen acht Stunden ist das Wasser weiter in denn See gelaufen. Das war eine Schwachstelle, dass muss man ganz offen so benennen. In Rücksprache mit dem Ministerpräsidenten und dem sächsischen Innenminister haben wir die Entscheidung in diesem Teilbereich dann an uns gezogen - und gesprengt.

Hatten die Verzögerungen Konsequenzen?

Stahlknecht: Gott sei Dank nicht. Es war aber der letzte Moment.

Der Bitterfelder Vize-Landrat Bernhard Böddecker (CDU) hat schwere Vorwürfe gegen Sachsen erhoben. Man verlagere die Probleme nach Sachsen-Anhalt. Hat er recht?

Stahlknecht: Ich will mal abstrakt antworten. Wenn Sie in einer Krise Führungsverantwortung haben, sind zwei Dinge wichtig: Absolute innere Ruhe und der Wille zur Entscheidung. Man kann da nicht rumlabern, es gibt nur ja oder nein. So etwas zu können, muss einem genetisch liegen. Es gibt Menschen, die können Krise und es gibt Menschen, die in solchen Momenten schlicht und einfach überfordert sind. Das ist kein Mangel, dafür ist der eine eben musikalisch.

Bei der Aktion „Schiffe versenken“ am Deichbruch bei Fischbeck wirkten Sie sehr nervös. Wie schläft man in solchen Tagen?

Stahlknecht: Ich habe in der Regel nur fünf Stunden geschlafen. Ich war so kaputt, dass das ohne Probleme und traumlos ging. Aber es stimmt, Fischbeck war eine Riesenanspannung, das gebe ich gerne zu. Aber egal, wie es ausgegangen wäre - es war die richtige Entscheidung. Man muss auch mal etwas wagen. Ich hatte Riesensorgen: Dass zivile Kapitäne mit Schiffen voller Sprengstoff unterwegs sind; irgendwo reinfahren, wo sie nicht hinein sollen oder bei der Sprengung verletzt werden.

In Breitenhagen wurde der Vorwurf laut, ein Deich wäre aufgegeben worden, um Magdeburg vor noch größeren Schäden zu bewahren.

Stahlknecht: Die Bundeswehr hat bis zum letzten Moment versucht, den Deich zu halten. Dass dann immer Legenden auftauchen, dass ein Deich vorsätzlich aufgegeben oder gar kaputt gemacht wird, ist normal. Aber das stammt aus dem Bereich Märchen. Man kann auch nicht bis zum Schluss aus Hubschraubern tonnenschwere Big Bags auf ohnehin schon desolate Deiche werfen.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie in Aken attackiert wurden, weil Sie ein Schöpfwerk zunächst nicht wieder in Betrieb nehmen wollten?

Stahlknecht: Dass da Ruhe in die Lage kommt. Die Leute befinden sich in einer absoluten Ausnahmesituation. Sie haben gerade ihr Hab und Gut verloren - so etwas geht mir doch auch nah. Und wenn Sie über Tage mit 80 anderen Leuten in einer Turnhalle leben müssen, führt das zu Spannungen. Dennoch stehe ich zu der Entscheidung, das Schöpfwerk nicht sofort wieder in Betrieb zu nehmen, auch wenn selbst ernannte Experten vor Ort anderer Meinung waren. Das hätte lebensgefährlich sein können. Am Ende hat ein Sachverständiger festgestellt, dass elektrische Bauteile vor der Wiederinbetriebnahme ausgetauscht werden mussten.

Welche Konsequenzen ziehen Sie aus der Katastrophe?

Stahlknecht: Man muss erst einmal festhalten, dass das insgesamt gut gelaufen ist. Die Zusammenarbeit hat nahezu überall reibungslos geklappt und ich habe viele Menschen erlebt, die über sich hinaus gewachsen sind. Es gehört aber auch dazu, dass man aus jeder Krise lernt: Künftig müssen wir bei länderübergreifenden Katastrophen die Verantwortung sofort an uns ziehen. Zudem denke ich darüber nach, eine dauerhafte Fachleutegruppe zu bilden, die als Task Force und Beratungsgremium den Landkreisen zur Verfügung steht. Wir werden das mit Abstand auf einer Konferenz im Herbst beraten. Dort werden auch die Zwangsevakuierungen zur Sprache kommen. Das ist ein Problem, wo ich überhaupt nicht weiß, wie man das löst.

Warum?

Stahlknecht: Das ist eine hammerharte Geschichte - Leute im Extremfall mit Handschellen in den Hubschrauber zu bringen. Das sind Bilder, die keiner will. Deswegen haben wir am Ende darauf verzichtet und die Leute vor Ort gelassen. Auch um ihr Vieh zu versorgen. Das bedeutet aber auch, dass diese Eingeschlossenen versorgt werden müssen. Damit bringen sich die Helfer in Gefahr und das verursacht zusätzliche Kosten.

Zahlreiche Helfer haben sich darüber beklagt, nicht eingesetzt worden zu sein - trotz Hilfeaufrufen bei Facebook und Co.

Stahlknecht: Das ist für Helfer natürlich schwer nachvollziehbar. Wir müssen daher überlegen, soziale Netzwerke bei künftigen Katastrophen gleich bei der Koordinierung der Freiwilligen einzusetzen, um so etwas zu verhindern. Und wir müssen die Einsatzführer entsprechend schulen, mit solchen Situationen umzugehen.