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Mordfall Michelle Mordfall Michelle: Ein Tag der Erleichterung

Von KATRIN LÖWE UND ALEXANDER SCHIERHOLZ 09.03.2009, 09:44

LEIPZIG/MZ. - Die Beamten durchsuchen die Wohnung von Daniel V., der sich am Sonntag der Polizei gestellt hatte. Mittlerweile hat der 18-Jährige gestanden, die achtjährige Michelle getötet zu haben. Es ist der Schlusspunkt in einem Drama, das Leipzig seit mehr als einem halben Jahr bewegt hat: Am 18. August 2008 verlässt Michelle ihre Grundschule, wo sie die Ferienspiele besucht. Zu Hause, einige hundert Meter entfernt, kommt sie nie an. Drei Tage später wird ihre Leiche in einem nahen Teich gefunden. Die Polizei bildet die mit zeitweise bis zu 180 Beamten größte Sonderkommission in der sächsischen Kriminalgeschichte.

Die Ermittler befragen fast 10 000 Leipziger, gehen mehr als 1 700 Hinweisen nach, durchkämmen unzählige Wohnhäuser, leere Fabriken und Gartenanlagen. Sie setzt auf freiwillige Speichelproben und auf die ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY". Doch lange gibt es keine heiße Spur vom Täter. "Wir werden ihn kriegen", verkündet Leipzigs Polizeipräsident Horst Wawrzinsky noch kurz nach Michelles Tod. Doch wenige Wochen später muss er einräumen: "Die Umstände erlauben uns keinen schnellen Fahndungserfolg."

Sieben Monate und 50 Meter Aktenbestand später ist den Ermittlern die wegfallende Last deutlich anzumerken. "Ich bin froh, dass dieser Alptraum von Leipzig genommen wurde", sagt Wawrzynski am Montagnachmittag auf einer Pressekonferenz. Vor einigen Wochen hatte die Polizei begonnen, mit einem um den Jahreswechsel von Profilern entwickelten Fragenkatalog sämtliche Bewohner im Umfeld von Michelles Wohnung zu vernehmen. Straßenzug um Straßenzug arbeiten sie ab. Am Sonntag 17 Uhr haben die Ermittler auch einen Termin bei Daniel V., einem bislang völlig unauffälligen, kontaktscheuen jungen Mann, der mit seiner Mutter nur rund 100 Meter von Michelles Wohnung entfernt lebt. Der Termin kommt jedoch so nicht mehr zustande: V. meldet sich mit seiner Mutter auf dem Polizeirevier. Er tischt den Beamten die Geschichte von einem Unbekannten auf, der ihm einen Sack zugeworfen und ihn aufgefordert habe, diesen zu entsorgen. In dem Sack habe sich Michelles Leiche befunden.

In der nun folgenden stundenlangen Vernehmung aber knickt der 18-Jährige ein und gesteht das Verbrechen. Er sagt den Beamten auch, wo sie Michelles Tasche finden, nach der monatelang fieberhaft gesucht worden war. Er hatte sie auf dem Heimweg vom Teich, zu dem er Michelles Leiche gebracht hatte, über einen Zaun geworfen. Dort findet die Polizei sie am Montag. Es handele sich um ein Grundstück, das vorher nicht abgesucht wurde, erklärt Sachsens Polizeipräsident Bernd Merbitz.

Daniel V. soll Michelle nicht nur vom Sehen, sondern auch über seine Ausbildung zum Sozialassistenten gekannt haben, heißt es. Möglicherweise ist er ihr sogar in der Schule begegnet: Er soll dort ein Praktikum gemacht haben. Nach ersten Erkenntnissen hat er Michelle in der Nähe seines Wohnhauses angelockt. Ob seine Wohnung auch der Tatort war, wollen die Ermittler derzeit noch nicht bestätigen. Die Spurensuche läuft noch, die Vernehmung von V. musste am Sonntag abgebrochen werden. Seine Mutter kann noch nicht befragt werden. Sie hat einen Nervenzusammenbruch erlitten.

"Michelles Vater hat die Nachricht von der Festnahme ruhig und gefasst aufgenommen", sagt Ina Alexandra Tust, die Anwältin der Eltern. Er sei erleichtert, sie habe aber den Eindruck, dass er es noch nicht fassen kann. Michelles Familie war nach dem Mord aus Leipzig weggezogen, um nicht täglich an das Verbrechen erinnert zu werden.

In den Stadtvierteln, in denen Michelles Schule, der damalige Wohnort der Familie und die Wohnung des mutmaßlichen Mörders liegen, spricht sich die Nachricht von der Festnahme schnell herum. "Zeit wird's", meint ein Spaziergänger. Zwar müsse noch die Unschuldsvermutung gelten, schiebt er nach, "aber erleichtert bin ich schon." Seine Freundin habe selber einen neunjährigen Sohn. Er besuche dieselbe Schule wie Michelle. Noch immer bringen viele Eltern ihre Kinder in die Grundschule Martinstraße und holen sie auch wieder ab. "Die Angst ist nach wie vor groß", sagt Anwohnerin Simone Thalheim. Kurz nach dem Mord hat sie mit Nachbarn einen Kinderschutzverein gegründet, der auch solche Begleitdienste anbietet. Ein umstrittenes Unterfangen: Der Verein organisierte Gedenkdemonstrationen, auf denen auch der Ruf nach der Todesstrafe für Kindermörder laut wurde - ein Thema, das Leipzigs Neonazis sogleich aufgriffen und propagandistisch ausschlachteten. Erst spät distanzierte sich der Verein von den Rechtsextremisten.

Sieben Monate sind vergangen seit dem Mord. "Die Polizei hat alles getan, was in ihren Möglichkeiten steht", sagt Thalheim. "Manchmal hatte ich schon Zweifel, ob man den Täter überhaupt findet", räumt Sebastian Rebner ein, Pfarrer der nahen Trinitatiskirche. Er habe aber auch immer wieder Hoffnung geschöpft. "Und jetzt", sagt er, "hoffe ich, dass die Festnahme den Eltern ein Stück ihrer Angst nehmen kann."

Ein Beamter der Spurensicherung arbeitet vor einem Wohnhaus in Leipzig. Im Mordfall Michelle hat die Polizei einen Tatverdächtigen gefasst. (FOTO: DPA)
Ein Beamter der Spurensicherung arbeitet vor einem Wohnhaus in Leipzig. Im Mordfall Michelle hat die Polizei einen Tatverdächtigen gefasst. (FOTO: DPA)
dpa-Zentralbild