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Wave-Gotik-Treffen WGT Leipzig: "Gothic Christ" ist ein Gottesdienst für die schwarze Szene beim Wave-Gotic-Treffen

Von Alexander Schierholz 09.05.2016, 18:11
Mit Schwert und Sarg: Der „Gothic Christ“-Gottesdienst des vergangenen Jahres.
Mit Schwert und Sarg: Der „Gothic Christ“-Gottesdienst des vergangenen Jahres. Hendrik Meller

Störmthal/Leipzig - Man ist ein bisschen enttäuscht, wenn man zum ersten Mal vor Franz Steinert steht. Klar, er trägt Schwarz, schwarzes Sweatshirt, schwarze Jeans, schwarze Halbschuhe. Aber es ist ein schlichtes Schwarz. Er inszeniert sich nicht so, wie man das von jemanden erwarten würde, der in der Wave-Gotik-Szene unterwegs ist.

Das liegt nicht nur daran, dass Steinert, 32, mittlerweile nicht mehr ganz so tief drinsteckt in der Szene. Er mag sich auch gerade nicht so schick anziehen.

Zu Pfingsten wird er wieder das Rüschenhemd überstreifen und den Gehrock anziehen, aber nicht jetzt und hier, auf dem Hof südlich von Leipzig, wo er wohnt. Das wäre doch übertrieben, findet er.

25. Jubiläum des Wave-Gotik-Treffens

Am Wochenende ist es wieder so weit: Leipzig, Pfingsten, Wave-Gotik-Treffen - ein längst vertrauter Dreiklang. Zehntausende Anhänger der schwarzen Szene werden bis zum Pfingstmontag die Stadt bevölkern.

Es gibt ein kleines Jubiläum zu feiern: Es ist in diesem Jahr das 25. Wave-Gotik-Treffen, kurz WGT genannt. Die Szene wirkt unübersichtlich: Viktorianische Romantiker treffen auf Uniform- und Lack-und-Latex-Fans, Cyber-Goths in Schwarz und Neon auf Punks.

„Die Schwarzen sind ein buntes Völkchen“, sagt Franz Steinert. Und er und seine Mitstreiter vom Freundeskreis „Gothic Christ“ sind mittendrin. In der Leipziger Peterskirche bieten sie Jahr für Jahr einen Gottesdienst für die Festival-Besucher an. Oder, wie in diesem Jahr, zumindest die Möglichkeit zur Einkehr.

Moment mal, geht das zusammen? Kirche, Gottesdienst und die „Schwarzen“, die ja bei manchen immer noch als Bürgerschreck verschrieen sind, gar als Satanisten? Die Gruftis, die nachts auf Friedhöfen komische Dinge tun? Die schlafen doch bestimmt in Särgen!

Solche Klischees über die Szene sind nicht totzukriegen. Und so war die Aufregung groß, damals, vor 15 Jahren, als sie anfingen mit „Gothic Christ“.

Als ihr Gottesdienst noch „Schwarzer Gottesdienst“ hieß, erkundigten sich aufgeregte Anrufer, ob in Leipzig nun schwarze Messen gefeiert würden? In einer Kirche!

Selbst vielen Leipziger Christen, die als weltoffen gelten, war anfangs nicht ganz geheuer, was sie da treiben bei „Gothic Christ“. Sie haben aus dem „Schwarzen Gottesdienst“ dann einen „Szenegottesdienst“ gemacht. Um Missverständnisse einzudämmen.

"Jesus war meine Hebamme"

Aber die Frage bleibt ja: Kirche und schwarze Szene, geht denn das? Klar, sagt Franz Steinert. Er ist keine Theologe, aber einer, der von sich sagt: „Jesus war meine Hebamme. Ich bin klassisch kirchlich sozialisiert.“

Heißt in seinem Fall: Junge Gemeinde in Glauchau bei Chemnitz, wo er aufgewachsen ist. Die Kirche saß bei Steinerts immer mit am Abendbrottisch, und der Tod irgendwie auch: Steinert senior war damals Friedhofswärter der evangelischen Kirchgemeinde.

Irgendwann ist Franz Steinert von der Jungen Gemeinde in die linksalternative Ecke gerutscht, und von da in die schwarze Szene. Er sehe, sagt er, Berührungspunkte zwischen Gothics und Christen - das Interesse an Spiritualität und Transzendenz, die Beschäftigung mit dem Thema Tod etwa. „Da war für mich sofort eine Gesprächsebene da.“ So sei das bis heute.

Und wie das so ist in so einer Szene: Jeder kennt einen, der einen kennt, der einen kennt. So fand Franz Steinert sich bei „Gothic Christ“ wieder.

Heute organisiert er den Laden, fünf bis zehn Leute gehören zum harten Kern. Worum es ihnen geht? Jedenfalls nicht darum, sagt er, „jemanden mit dem Holzhammer zu bekehren“. Nein, es gehe darum, „die Perspektive zu weiten und Interesse an anderen zu zeigen“.

Ob sie nun an Gott glauben oder nicht, ob sie als Szene-Gänger mit ihrem Äußeren provozieren wollen oder nicht. Egal.

Melancholische Musik beim "Gothic Christ"

Zu den Gottesdiensten kämen oft Gothic-Anhänger, die sich in ihren Heimat-Kirchgemeinden als Außenseiter fühlten, sagt Steinert. Weil sie als „Schwarze“ dort argwöhnisch beäugt würden oder weil sich schlicht nicht angesprochen fühlten von Predigt, Liedern oder Liturgie herkömmlicher Gottesdienste.

Deshalb gibt es bei „Gothic Christ“ eher melancholische Musik, die in der Szene gern gehört wird. Die Predigten, gehalten von einem Laien, dem Leipziger Schriftsteller Patrik Thiele, fallen auf durch eine bildreiche Sprache oder szenische Elemente.

„Fackel und Schwert“ hieß das Motto des vergangenen Jahres. Wem das jetzt alles zu düster erscheint, zu melancholisch, zu nah am Tod, zu weltabgewandt, der muss Franz Steinert bloß zu Hause besuchen.

So lebt der Organisator des Gottesdienstes privat

Störmthal südlich von Leipzig: 500 Einwohner, ein See und ein Hof, auf dem Steinert mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern wohnt. Der Raps auf den Feldern am Dorfrand blüht wie verrückt an diesem sonnigen Maitag.

Die Lücke zwischen zwei Kirschbäumen im Garten füllt ein Trampolin aus. Auf der Wiese parken zwei Spielzeug-Traktoren. Am Zaun stehen Hasenställe, eine Häsin hat gerade geworfen. Ziegen blöken.

Steinert und seine Frau sind Hauseltern in einer ganz besondern Wohngemeinschaft. Eine Handvoll junger Strafgefangener bereitet sich hier, auf dem „Seehof“, auf ein Leben außerhalb des Knastes vor. „Vollzug in freier Form“ heißt das.

Es ist ein Modell mit einem streng strukturierten Tagesablauf, mit Berufsschule und praktischer Ausbildung. Und mit einem System, das Leistung mit Privilegien belohnt - und diese bei Fehlverhalten ebenso schnell wieder entziehen kann.

Es ist kein Bullerbü für Knackis, sondern, sagt Hausvater Steinert: „Das hier ist immer noch Strafvollzug.“ Weltabgewandt? Wenn so etwas nicht mitten im Leben ist, was dann?

Mit seiner sanften Stimme, seinem warmen Lächeln, seinem Bärtchen und seinen schluffigen Klamotten wirkt Franz Steinert wie das Mensch gewordene Klischee eines Sozialarbeiters. Und genau das studiert er auch nebenberuflich: Soziale Arbeit.

Vorher hat er Politik studiert und war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Leipzig. Aber irgendwie war es das nicht. In der Studienfachberatung, für die er gearbeitet hat, werden spirituelle Fragen eben eher selten verhandelt. Jetzt ist Steinert da, wo er sein möchte. „Wir fühlen uns am richtigen Platz“, sagt er lächelnd, „die Arbeit ist sehr inspirierend.“

Am Pfingstsonntag wird er wieder in der Leipziger Peterskirche sitzen. Das Gotteshaus erhebt sich wie eine Trutzburg auf dem Schletterplatz in der Südvorstadt.

Und als hätten sich der liebe Gott oder der Weltgeist oder wer auch immer einen guten Witz ausgedacht, ist die Peterskirche im neogotischen Stil erbaut, sind ihre Mauern von Staub und Abgasen geschwärzt.

Einen Gottesdienst wollen sie hier diesmal nicht feiern. „Wir haben in den letzten Jahren so viel Zeit und Kraft investiert“, sagt Steiner, „jetzt ist der Akku erstmal leer.“ Also werden sie nur die Kirche öffnen. Sie werden Gespräche anbieten und die Gelegenheit zum Gebet. Abends wird es zwei Konzerte geben.

Sie werden die Kirche schmücken, wie in den Vorjahren, vielleicht mit Tüchern, vielleicht mit weißen Lilien. Einmal haben sie haufenweise schwarze Regenschirme von der Decke baumeln lassen, ein anderes Mal stand ein Sarg im Kirchenschiff, bedeckt mit Rosenblüten.

Heute ist das Wave-Gotik-Treffen längst in der Leipziger Normalität angekommen. Das Festival ist eine feste Größe im städtischen Tourismus-Kalender, so wie „Gothic Christ“ im Kalender der Peterskirchengemeinde. Auf der Gemeinde-Website findet sich der Termin in der Rubrik „Kultur“. Ein Stichwort, die Uhrzeit, fertig. Keine Erklärungen, kein großes Gewese. Die „Schwarzen“ gehören dazu. (mz)

„Gothic Christ“, 15. Mai, ab 15.30 Uhr, Leipzig, Peterskirche am Schletterplatz (Südvorstadt)