Wave-Gotik-Treffen in Leipzig Wave-Gotik-Treffen in Leipzig: Schlafen die alle im Sarg?

Leipzig - Man sieht: Die jungen Frauen haben Spaß, wie sie da am Straßenrand sitzen, vor sich eine leere Bierdose. Eine zieht genüsslich an ihrer Zigarette, eine andere lacht sich gerade kaputt über irgendwas. Damals, 1994, reichte es noch, wenn man sich komplett in Schwarz kleidete, um die „Normalos“ ein bisschen aufzuschrecken. Mit schweren Boots, Leder und schwarz lackierten Fingernägeln. Die Hingucker auf diesem Bild des Fotografen Gerd Lehmann sind aus heutiger Sicht aber zwei andere: Im Hintergrund, wenige Meter von den Gruftis entfernt, sitzt ein älteres Paar hinter einem Zaun auf einer Bank - er mit Hornbrille und Kette überm Poloshirt, sie mit Dauerwelle und weißen Pantoletten. Skeptisch beäugen die beiden das schwarze Spektakel. Welten prallten damals in Leipzig aufeinander, als das Wave-Gotik-Treffen noch relativ neu war.
Bands hören und Gleichgesinnte treffen
Das ist auch heute noch so, wenn die Gothics zu Tausenden zu Pfingsten in die Stadt kommen, um zu feiern, ihre Bands zu hören und Gleichgesinnte zu treffen - natürlich aufwendig zurechtgemacht und gern von einer erdigen Patschuli-Wolke umgeben. Die Blicke der anderen haben sich jedoch längst gewandelt: Neugierig und aufgeschlossen, wie der Leipziger eben so ist, verfolgen die Einwohner das Treiben. Und nicht nur sie: Stets strömen auch Besucher von außerhalb am Pfingstwochenende in die Stadt, um die blassen Gestalten mit Hang zu Schwarz nicht nur zu sehen, sondern auch zu fotografieren. Es soll sogar Bustouren geben, die die Schaulustigen dann, gewissermaßen zum Gruftigucken, in die Stadt bringen. 2014 gab es für so viel Aufmerksamkeit (und Zusatzeinnahmen), die das oft nur kurz WGT genannte Festival alljährlich erzeugt, gar den Leipziger Tourismuspreis. Auf der anderen Seite loben die Gothics vielfach die Offenheit der Stadt.
Anhänger und Macher des Festivals befragt
„Die Leipziger schauen mit einer Mischung aus Faszination und Befremden, Amüsement und inzwischen auch Stolz auf dieses Treffen, das heute die gesamte Stadt erfasst“, sagt Johanna Sänger. Die Kulturhistorikerin ist am Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig für die Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart zuständig - und hat sich viele Monate lang intensiv mit der Schwarzen Szene beschäftigt, Anhänger und Macher des Festivals befragt. Denn das Museum wollte etwas Neues wagen, hat - wie sie sagt - „den historischen Sicherheitsabstand verlassen“ und widmet seine neue Sonderausstellung etwas ganz Heutigem: Anlässlich des 25. Wave-Gotik-Treffens in diesem Mai beschäftigt sich die Schau „Leipzig in Schwarz“ mit eben dieser Szene und ihrer jährlichen Zusammenkunft, bei der es sich um die weltgrößte Veranstaltung der Gothic-Kultur handelt. Die Ausstellungsstücke seien fast ausschließlich Leihgaben von Privatleuten, erzählt Kuratorin Johanna Sänger. Abgesehen von den Grabsteinen, die das Friedhofsamt zur Verfügung gestellt hat, oder den Särgen aus dem Fundus der Oper.
„Die schlafen bestimmt alle im Sarg“
Womit der Besucher der Schau gleich zu Beginn mit einigen Klischees rund um die Gothics konfrontiert wird - und Annahmen wie: „Die schlafen bestimmt alle im Sarg.“ Sie hätten lange gesucht, sagt Johanna Sänger, bis sie tatsächlich jemanden gefunden hatten, der einen Sarg zu Hause hat. „Aber nur als Couchtisch - zum Schlafen ist er zu unbequem.“ An den Klischees sei nicht viel dran, ist in der Ausstellung zu erfahren - auch wenn Särge, Fledermäuse oder Totenköpfe wichtige Symbole der Gothics sind. Und sich Anhänger der Szene häufig mit Themen wie Vergänglichkeit und dem Tod beschäftigen, der sonst eher tabuisiert wird. „Das hat auch mit Provokation zu tun“, sagt Johanna Sänger. „Vielen ist die Gesellschaft zu oberflächlich.“
Verfolgt in der DDR
In den 80er Jahren der DDR war es keine so selbstverständliche Sache wie heute, seine Lebenseinstellung derart offen zur Schau stellen zu können. Gruftis wurden von der Stasi als Bedrohung beziehungsweise „feindlich-negative“ Jugend-Gruppen empfunden und beobachtet, wie die Ausstellung und das dazu erschienene Buch zeigen. Ab 1988 durfte die in der Szene verehrte Band The Cure in DDR-Jugendzeitschriften thematisiert werden. Natürlich begnügte sich nicht jeder damit: Szene-Berichte aus West-Magazinen kursierten ebenso wie kopierte Musikkassetten.
„Chaos-Treffen“ vom Jahr 2000
Es war 1992, als einige Enthusiasten das erste WGT organisierten - rund 2 000 Fans kamen, um eine Handvoll Bands zu erleben. Das Musikfestival wuchs schnell: Schon bei der fünften Auflage 1996 gab es über 30 Veranstaltungen mit mehr als 10 000 Besuchern. Längst als legendär gilt das „Chaos-Treffen“ vom Jahr 2000. Da kam es zum Eklat - mit bemerkenswertem Ausgang. Die Macher hatten ein riesiges Event geplant. Über 25 000 Karten wurden verkauft, doch die Kosten waren immens. Wie sich bald herausstellte, hatte man sich verplant. „Noch während des Treffens war das Geld alle“, berichtet Johanna Sänger. Rechnungen und Gagen konnten nicht bezahlt werden. Bands reisten ab, Security-Leute blieben fern. Doch als die Pleite - und damit eigentlich das vorzeitige Ende des Festivals - bekannt wurde, entschieden sich etliche Musiker, ohne Gage zu spielen. WGT-Besucher schlossen sich einer eilig gebildeten Security-Gruppe an. Überall wurde improvisiert. Das Festival konnte weitergehen. Im Jahr darauf fand es mit einem neuen Organisationsteam wieder wie üblich statt.
Im Schnitt 20 000 Besucher
Zur Geschichte des Treffens gehört indes auch, dass immer wieder Kritik und Diskussionen aufkamen angesichts der in der Schwarzen Szene gern verwendeten germanischen Runen, Uniformen und Symbole des Nationalsozialismus. Oft sei nicht auf den ersten Blick erkennbar, wie das gemeint sei, sagt die Kuratorin - als Verherrlichung oder Provokation. In der Schau ist beispielsweise ein selbstgestaltetes T-Shirt zu sehen mit einem Schriftzug in Runen. Wer diese deuten kann, liest dort allerdings „Fuck Nazis“.
Heute nehmen im Schnitt 20 000 Besucher, darunter auch etliche aus dem Ausland, an dem Treffen teil - und noch einige mehr, die nur wegen des speziellen Flairs kommen und beim großen Schaulaufen auf den Straßen dabei sein wollen, aber keine Tickets zu den WGT-Konzerten kaufen. Die Szene ist unglaublich bunt - wenn auch meist nur im übertragenen Sinne. Blasse Haut, dunkel umrandete Augen und allgemein die Farbe Schwarz sind angesagt wie eh und je. Eines haben die Gothics gemeinsam, so Sänger: „Es geht darum, nicht die aktuelle Mainstream-Mode zu tragen.“ Die Bandbreite der Looks aber ist so groß wie die der Musik, die gehört wird. Da gibt es etwa die Dunkel-Romantiker mit Faible für Historisches - ob nun mittelalterlich oder viktorianisch. Die Uniform- und die Tarnsachenträger. Cyber Goths in Schwarz und Neon. Dunkle Punks. Oder Fetisch-Fans in Lack und Latex. Unübersehbar: Der Körper wird gern in Szene gesetzt. Die Herren geben sich mitunter androgyn, die Damen mögen es sexy - oft mit Korsett, manchmal mit weniger.
Veranstaltungen beim WGT sind bunter geworden
Auch die Veranstaltungen beim WGT sind bunter geworden: Neben Konzerten gibt es etwa Lesungen, Ausstellungen, Märkte, gar spezielle Gottesdienste. Beim Stricknachmittag geht es um historische Techniken, bei einer Führung des Naturschutzbundes Nabu um die Tier- und Pflanzenwelt auf Friedhöfen. Längst beteiligen sich Orte der sogenannten Hochkultur, von Oper bis Museen. Und mancher Gothic von damals bringt heute seine Kinder mit. (mz)
