Ehemaliger Freiladebahnhof Ehemaliger Freiladebahnhof: Leipzig bekommt komplett neues Wohnviertel

Leipzig - Leipzig wächst und braucht mehr Wohnungen. Hinter dem Hauptbahnhof soll ein komplett neues Viertel entstehen. Die Mieten kennen derweil nur eine Richtung: nach oben.
Es braucht ziemlich viel Fantasie,um sich gerade hier die Zukunft vorzustellen. Hier, zwischen Gleisen und einer Ausfallstraße nördlich des Leipziger Hauptbahnhofs. Zwischen Tankstelle, Autovermietung, einem Studentenklub, verrotteten Baracken und staubigem Brachland.
Das ist der Ist-Zustand. Und so soll es werden: Wohnhäuser, Kindergärten, Schulen und Parks auf dem Gelände eines ehemaligen Freiladebahnhofs - ein neuer Stadtteil für Leipzig, einer von mehreren, die in den nächsten Jahren hochgezogen werden sollen.
Stark wachsendes Leipzig: Bis 2030 wird die Messestadt 700.000 Einwohner haben
Leipzig wächst. Nach Prognosen sollen 2030 um die 700.000 Menschen in der Stadt leben, heute sind es gut 580.000. Jedes Jahr ziehen Tausende her. Seit einigen Jahren werden jährlich mehr Menschen geboren als sterben.
Leipzig bekommt neues Stadtviertel: 2000 neue Wohnungen auf einer Fläche von 30 Fußballfeldern
Wo sollen all die Neu-Leipziger wohnen? Nicht irgendwo am Rand, sagen sie im Rathaus. Stattdessen sollen innerstädtische Brachflächen zu neuen Quartieren werden, etwa das Areal des früheren Bayerischen Bahnhofs im Süden. Oder eben der Freiladebahnhof im Norden: 24 Hektar, das entspricht einer Fläche von mehr als 30 Fußballfeldern. Platz für 2.000 Wohnungen.
Wie das neue Viertel am Ende aussehen wird, das weiß Ulf Graichen auch noch nicht so genau. Schließlich fangen sie gerade erst an. Graichen, der trotz 30 Grad im Schatten zum weißen Hemd einen dunklen Anzug trägt, steht auf einer holprigen Pflasterstraße mitten auf dem Gelände, hinter sich einen alten Lokschuppen und einen neuen Zaun, der unerwünschte Besucher fernhalten soll.
raichen, 39, leitet die Leipziger Niederlassung der Immobilienfirma CG-Gruppe - und ist damit so etwas wie der Chefbaumeister am alten Freiladebahnhof. CG hat das Gelände von der Deutschen Bahn gekauft und mit der Stadt einen sogenannten städtebaulichen Vertrag geschlossen.
Dieses Papier legt nicht nur in groben Zügen fest, was gebaut werden soll, sondern auch, dass die Bürger mitreden dürfen. Anwohner wurden per Zufallsstichprobe eingeladen oder konnten sich bewerben. Am Ende wurden rund 50 Personen aller Altersgruppen ausgewählt.
Die Gruppe soll nun Ideen einbringen. Es geht um Themen wie den künftigen Verkehrsanschluss, aber auch um die architektonische Gestaltung. Vom „Nachbarschaftsforum“ sprechen Stadt und Investor, von einer „Städtebauwerkstatt“ , in der Planer die Ideen der Bürger aufgreifen sollen.
„Wenn Sie Akzeptanz für ein solches Projekt haben wollen, müssen Sie die Menschen einbeziehen“, sagt Graichen. „Es ist nicht mehr zeitgemäß, den Leuten einfach etwas vorzusetzen.“
Klingt alles sehr ambitioniert. Dieter Rink lobt die breite Bürger beteiligung. „Das hat es in dieser Form bisher nicht gegeben“, sagt der Leipziger Stadtsoziologe. Rink bleibt dennoch skeptisch: Man müsse abwarten, was von den Bürgervorschlägen am Ende wirklich umgesetzt werde.
Wer wissen will, wie die Leipziger künftig wohnen werden, der ist bei Dieter Rink richtig. Besuch im Leipziger Norden, Wissenschaftspark an der Permoser Straße. Forschungs- und Lehrgebäude, ein kleiner Park, für die Mittagspause im Freien eine hölzerne Terrasse, die über einem Teich zu schweben scheint. Angespannter
Wohnungsmarkt in Leipzig - Das sind die Prognosen der Wissenschaftler
Von diesem idyllisch wirkenden Ort aus beobachtet der Professor am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) seit Jahren den Leipziger Wohnungsmarkt. Er rechnet vor: Wachse die Stadt wie vorhergesagt, seien bis 2030 60- bis 70.000 neue Wohnungen notwendig.
Rund vier Prozent der Wohnungen in Leipzig stehen leer, von denen sei aber nur die Hälfte sofort beziehbar, die anderen müssten erst saniert werden, so Rink. Experten wie er sprechen von einem „angespannten“ Wohnungsmarkt.
Seit Jahren kennen die Mieten in Leipzig nur eine Richtung - nach oben. Zwar ist die Stadt mit einer Durchschnittskaltmiete von 5,50 Euro pro Quadratmeter immer noch die preiswerteste der 15 größten deutschen Städte. Dennoch beklagt Rink: „Es fehlt an preiswerten Wohnungen.“ Saniert und neu gebaut werde seit Jahren überwiegend im „höher- und hochpreisigen Segment“.
Nach Erhebungen des Wissenschaftlers werden für sanierte Wohnungen zwischen acht und zehn Euro fällig; bei Neubauten reicht die Spanne von neun bis zwölf Euro. Viele können sich das nicht mehr leisten.
Rink berichtet von Studenten, die zum ersten Mal seit Jahren Schwierigkeiten hätten, bezahlbare WG-Zimmer zu finden. Von Hartz-IV-Empfängern, denen das Amt die Mieten nicht mehr zahlt und die deswegen ausweichen müssen.
Denn es gibt ja noch vergleichsweise günstige Wohnungen in Leipzig: immer häufiger am Stadtrand. Rink sieht diesen Verdrängungsprozess kritisch: Eine „soziale Durchmischung“ von Vierteln, wie sie sich die Stadt selbst zum Ziel gesetzt habe, werde so nicht erreicht.
Sachsens Programm für sozialen Wohnungsbau
In den neuen Quartieren, wie am alten Freiladebahnhof, will die Stadt versuchen, diesen Trend zu bremsen. 30 Prozent der Wohnfläche sollen Sozialwohnungen sein. Rink meint aber: Es bleibe abzuwarten, wie hoch die Mieten dort tatsächlich sein werden.
Unlängst hat Sachsen ein Programm für den sozialen Wohnungsbau aufgelegt - Vermieter und Investoren erhalten Fördermittel, dafür müssen sie für mehrere Jahre die Mieten senken. Doch das Programm läuft vorerst nur bis 2019 - das Jahr, in dem der Investor CG-Gruppe gerade erst mit dem Bauen anfangen will.
Doch CG-Mann Graichen beteuert: „Wir wollen Wohnungen für alle anbieten, auch für die Krankenschwester und für den Handwerker.“ Diese sollten nicht an den Stadtrand verdrängt werden. Preisgünstige Wohnungen will das Unternehmen auch schaffen, indem es kompakt baut.
„In einer Altbauwohnung zahlen Sie manchmal für zehn Quadratmeter Flur, den niemand braucht“, sagt Graichen, „das muss nicht sein.“ Für ihn ist auch das eine Form sozialen Wohnungsbaus.
Wohnraum für alle, grün, citynah - noch ist das eine Vision. Noch künden alte Lagerhallen, Laderampen und Lichtmasten von der Vergangenheit des Geländes, auf dem bis 1991 Güter umgeschlagen wurden. Noch sind nicht alle Abschnitte des riesigen Grundstückes auf explosive Altlasten des zweiten Weltkrieges untersucht - auch deshalb der Zaun, vor dem Graichen steht.
Es wird Jahre dauern, bis aus der Ödnis ein neues Viertel gewachsen ist. „Wir sind überzeugt, dass das funktioniert“, sagt der Manager. Damit es funktioniert, bauen sie sogar auf eigene Kosten Schulen und Kindergärten - so ist es mit der Stadt vereinbart.
Ulf Graichen kalkuliert da ganz als nüchterner Geschäftsmann: „Wenn Sie einen Vermietungserfolg erzielen wollen, gehören solche Angebot heute einfach dazu.“ (mz)