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Landtag Sachsen-Anhalt Landtag Sachsen-Anhalt: Der erste Präsident erinnert sich

Von HANS-JÜRGEN GREYE UND HENDRIK KRANERT-RYDZY 27.10.2010, 18:22

Halle (Saale)/MZ. - Klaus Keitel hat Abstand gewonnen. Es ist dem 71-Jährigen anzumerken. Er redet lockerer, freier, als er es je zu seinen Amtszeiten getan hätte. Und so gibt der frühere Landtagspräsident unumwunden zu, dass bei ihm keine richtige Festtagsstimmung aufkommen wollte - an jenem denkwürdigen 28. Oktober 1990. Damals in der Kaserne in Dessau. "Ich war viel zu nervös, stand unter Spannung. Irgendwie hatte ich das Gefühl, die Hauptlast tragen zu müssen, damit die Sache gut über die Bühne geht", erinnert sich der Hallenser. "Die Sache" war die konstituierende Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt, zwei Wochen nach der ersten freien Wahl des Parlaments nach dem Mauerfall.

Keitel wählt die Worte mit Bedacht. "Es gab große Erwartungen", sagt er. Und es ist zu spüren, wie den Mann, der vor acht Jahren die politische Bühne verlassen hat, noch heute jene spannenden Stunden bewegen. Den Mann, der als ehemaliger Bürgerrechtler plötzlich im Präsidium saß. Für die CDU, der er erst seit wenigen Monaten angehörte. Eine Blitzkarriere.

Heimatstadt verliert

Doch die Erinnerung bringt nicht nur eitel Freude. "Ich musste erleben, wie meine Heimatstadt Halle den Kampf um die Hauptstadt-Frage im Bundesland verlor," sagt Keitel. Die Auseinandersetzung zwischen den Städten war schon Wochen zuvor erbittert geführt worden. Auch deshalb gründete sich der Landtag auf neutralem Boden, in der alten NVA-Kaserne in Dessau. Da, wo dann die Entscheidung fiel. Wirklich? "Formal ist diese Frage am Tag der Sitzung noch offen gewesen", so Keitel, "doch tatsächlich stand längst fest, wohin das Pendel ausschlagen wird."

Nach Magdeburg. "Ich hatte befürchtet, dass es so kommt", sagt Keitel heute - und nennt dafür einen überraschenden Grund: "Das Interesse in der Region Halle, vor allem bei der CDU und der SPD, hielt sich in Grenzen." Nur die PDS und die Liberalen hätten sich für die Saalestadt stark gemacht, die großen Volksparteien saßen bereits mit ihren Zentralen an der Elbe - und mit ihnen die Entscheider. "Ich weiß, dass das bei der CDU zu 100 Prozent eine Rolle gespielt hat, bei der SPD gehe ich ebenfalls davon aus", sagt Keitel. Zudem sei Magdeburg von den zahlreichen Beratern aus Niedersachsen präferiert worden - schon wegen der räumlichen Nähe: "Manche konnten ja in Hausschuhen von einem Land ins andere wechseln."

Klaus Keitel macht eine Pause, dann schmunzelt er. Mit dem Abstand der Jahre sei er gar nicht so unglücklich über die Entscheidung: "Halle hat sich seine Ruhe und Intimität bewahrt, die sicher erschüttert worden wäre, wenn der ganze Beamten-Apparat in die Enge der Stadt eingefallen wäre." Dennoch habe auch Halle von einigen großen Landesbehörden profitiert und sei alles in allem "nicht schlecht gefahren".

Wie er den Einstieg in die Demokratie erlebt habe? Er als Mann des Runden Tisches. "Mit einer Enttäuschung. Die Beteiligung an der ersten freien Landtagswahl lag nur bei 60 Prozent. Mir wollte einfach nicht in den Kopf, warum es nicht 90 oder wenigstens 80 Prozent waren." Gegrübelt, das gibt Keitel gern zu, habe er auch über sein eigens Wahlergebnis. 17 Gegenstimmen und fünf Enthaltungen für den neuen Landtagspräsidenten - "wem hatte ich etwas getan, wer konnte etwas gegen mich haben?" Aus dem Ärger des Augenblicks ist später die Erkenntnis gewachsen, erlebt zu haben, "was Demokratie nun einmal auch ist".

Wieder eine Pause. "Es gab wahrlich viel zu erleben." Zum Beispiel die Turbulenzen der ersten Wahlperiode mit dem Rücktritt des ersten Ministerpräsidenten Gerd Gies (CDU) und dann den Rücktritt von Gies' Nachfolger Werner Münch - republikweit unter dem Begriff Gehälteraffäre in die politischen Annalen eingegangen. Keine Sternstunden für das junge Land. Unruhige Zeiten. Es gibt Dinge, die sind Klaus Keitel auch heute noch fremd. "Ich hatte sie ja alle im Landtag dicht vor mir. Und ich war jedes Mal entsetzt, wenn ich in hasserfüllte Gesichter gesehen habe."

Klaus Keitel, der Visionär? Der lacht. "Weil ich Mitte der 90er Jahre gesagt habe, dass eine Große Koalition aus CDU und SPD das beste und stabilste für dieses Land sei?" Die beiden Parteien jedenfalls fanden das damals nicht sonderlich amüsant. Heute fühlt sich Keitel bestätigt und wünscht sich eine Fortsetzung der seit 2006 regierenden Koalition. "Diese Koalition ist überraschend gut im Interesses des Landes gelaufen." Nüchtern betrachtet. Freilich fehle der politischen Auseinandersetzung etwas die Würze. "Früher wurden Probleme hart und klar angesprochen. Heute ist alles durchgestylt und programmiert". Wer habe denn noch Interesse daran, eine Sache auf den Punkt zu bringen? "So werden Probleme verniedlicht." Etwa, dass jeder vierte Euro in Sachsen-Anhalt noch immer aus Transferleistungen kommt, was mit Ende des Solidarpaktes 2019 zu drastischen Einschnitten führe.

Politischer Un-Ruhestand

Keine Frage: Auch im Ruhestand beschäftigt Keitel das politische Leben Sachsen-Anhalts. Zum Beispiel die Debatte um ein Bundesland Mitteldeutschland. "Überlegt worden ist das schon 1990, doch man ist den einfacheren Weg gegangen." Keitel hält ein solches Bundesland nach wie vor für wünschenswert, was jedoch nicht bedeutet, dass ihm nichts an Sachsen-Anhalt liegt, dessen politischen Geschicke er acht Jahre als Landtagspräsident und weitere vier als Abgeordneter mit prägte. Im Gegenteil: "Wenn ich mal in Depressionen versinke, fahre ich mit meiner Frau an die Goitzsche bei Bitterfeld. Da kann man sehen, dass in diesem Land große und gute Sachen gelungen sind."