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Rollenspiel in Dübener Heide Rollenspiel in Dübener Heide: Teenager leben 24 Stunden als Flüchtling

Von Paul Damm 26.11.2019, 11:04
Noch wissen die Neunt- und Zehntklässler in dem Rollenspiel zur Flucht nicht, was in den nächsten 24 Stunden auf sie zukommt.
Noch wissen die Neunt- und Zehntklässler in dem Rollenspiel zur Flucht nicht, was in den nächsten 24 Stunden auf sie zukommt. Baumbach

Bad Schmiedeberg - Was ist es für ein Gefühl, auf der Flucht zu sein? In ständiger Angst zu leben? Demütigungen, Verhöre von korrupten Grenzsoldaten und willkürliche Verhaftungen über sich ergehen lassen zu müssen? 35 Schüler wollten am vergangenen Wochenende in der Dübener Heide bei Bad Schmiedeberg selbst erfahren, was diese Menschen fühlen, was sie antreibt. Für 24 Stunden schlüpften die Jugendlichen aus Halle, Magdeburg und Mücheln in die Rolle von Flüchtlingen.

Das Rollenspiel „Youth on the run“ (Jugend auf der Flucht) wird seit 2012 von den DRK-Freiwilligendiensten Sachsen-Anhalt organisiert. Es dient dazu, der jugendlichen Zielgruppe das Leben von Flüchtlingen vor Augen zu führen. Beim diesjährigen Projekt verschlug es insgesamt 35 Schüler aus vier Schulen in die „Ferienanlage am Grenzbach“ in Großkorgau. Nur in geringem Maße konnten sich die Jugendlichen im Alter von 15 bis 17 Jahren vorstellen, was sie dort erwarten würde.

„Das ist auch gut so, denn somit sind die Schüler unvoreingenommen und nehmen das Rollenspiel ernst“, berichtet Katja Fischer, die stellvertretende Geschäftsführerin vom DRK in Sachsen-Anhalt. Zum wiederholten Male leitet sie das Projekt in der Dübener Heide und ist immer wieder aufs Neue gespannt, wie sich die Jugendlichen in Ausnahmesituationen verhalten - und zwar als Flüchtlinge. „Zu Beginn bekommt jeder von uns einen Pass mit seinem Namen, seiner Herkunft und seinem Alter.

Diese Daten müssen die Schüler dann schnell verinnerlichen, denn die Grenzsoldaten fragen dies ab“, erklärt Organisatorin Fischer. Wenn sich ein Schüler diese Personaldaten nicht merkt, muss er zur Strafe drei Runden um dem Fußballplatz rennen. Danach werden den Schülern mit ihren neuen Identitäten sogenannte Familien zugewiesen. Das sind Gruppen aus ungefähr fünf Personen, die während der Flucht immer zusammenbleiben.

Einer von ihnen bekommt dann die Position des Familienoberhauptes - darf somit bestimmen und wichtige Entscheidungen treffen. Als „Familie“ müssen sie in den verschiedenen Szenen etliche Hürden meistern, um ihren Fluchtweg bestreiten zu können. Angefangen von bürokratischen Situationen über abenteuerliche Verfolgungsjagden bis hin zur Verhaftung durch die Polizei – das Rollenspiel beinhaltet viele denkbare Situationen, die Flüchtlinge auf ihrem langen Weg der Flucht von Somalia nach Deutschland bewältigen müssen.

Mehr als 20 Betreuer haben die Jugendlichen während der kalten Nacht auf Trab gehalten. Das spiegelte sich am Morgen danach auch in den Gesichtern der Teenager wider. Dunkle Augenringe und zerzauste Haare zeugten von einer turbulenten und anstrengenden Nacht.

„Das Projekt war richtig klasse. Ich konnte plötzlich verstehen, wie sich ein Flüchtling fühlt. Ich betrachte das alles mit anderen Augen als zuvor“, schätzte die 16-jährige Anna-Elisa Dammeier im Nachhinein ein. Ein anderes Mädchen stimmt ihr zu und ergänzte: „Stellt euch mal vor, das wäre die nächsten Monate auch noch so.“

Einer, der aus eigener Erfahrung sprechen kann, ist Rami Dahbour. Der 29-jährige Syrer schilderte den Schülern seine herzergreifende Geschichte, wie er vor vier Jahren aus seiner Heimatstadt Aleppo nach Deutschland kam. Er zeigte eine Menge Bilder von zerbombten Häusern und dokumentierte seine gefährliche Reise nach Europa.

„Mit einem Schlepper sollte ich per Boot nach Griechenland gebracht werden. Ich habe mich erkundigt - das Boot war offiziell für 18 Leute zugelassen. Wir waren weit mehr als 60“, erzählte er. Nach einer monatelangen Tortur durch verschiedene Länder gelangte er dann endlich nach Deutschland. Von seinem Vater hatte er gehört, dass er sich dort sicher fühlen und gut leben kann.

Einige Schüler, die aufmerksam zuhörten, wischten sich Tränen von den Wangen. Rami Dahbour sorgte aber auch für staunende Gesichter, als er ein Foto zeigte. „Ich war im Bundestag und heraus kam ein Selfie mit Angela Merkel.“

Zum Projekt

Mehr als 70 Millionen Menschen sind laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR weltweit mehr auf der Flucht. Für die Bevölkerung der Länder, in denen diese Schutz suchen, ist es meist nur schwer nachvollziehbar, was die Menschen auf dem Weg ihrer Flucht alles durchlebt haben.

Die DRK-Freiwilligendienste Sachsen-Anhalt sehen es als Aufgabe, das Thema „Flucht“ zu sensibilisieren und zur Völkerverständigung beizutragen. Mit dem Einsatz des Rollenspiels „Youth On The Run“ (Jugend auf der Flucht) sollen Vorurteile nachhaltig abgebaut und Empathie für geflüchtete Menschen aufgebaut werden. Für 24-Stunden schlüpfen die Jugendlichen in neue Identitäten und werden Familien zugewiesen.

Als „Familie“ machen sie sich auf den Weg von Somalia nach Deutschland und stellen sich vielen Herausforderungen. Diese sind realen Fluchterlebnissen nachempfunden. Behördenwillkür, Erniedrigung, Nahrungs- und Schlafentzug sind nur einige der Erfahrungen, die Flüchtende auf ihrem Weg machen müssen. Das Projekt wird seit 2012 mit Schülern durchgeführt.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung des Textes war die Rede vom Jugendrotkreuz. Das Rollenspiel wird aber von den DRK-Freiwilligendiensten Sachsen-Anhalt organisiert. (mz)