Blick in die Kirchenchronik Winter und Bode-Hochwasser gingen in Thale lange Hand in Hand
Bis ins vergangene Jahrhundert trieb die Gefahr einer „Eisfahrt“ der Bode den Menschen in Thale Sorgenfalten auf die Stirn. 1692, 1740, 1774, 1803 ... Die Liste der Hochwasser ist lang. Wann die ärgsten Fluten wüteten.

Thale/MZ - Man kann es sich heute kaum noch vorstellen: Wochenlange, klirrende Kälte, die die Bode aus den höheren Lagen bis ins Thalenser Siedlungsgebiet hinein gefrieren lässt - und den Einwohnern Unheil und Verwüstung ankündigt.
Denn auf die trügerische Idylle folgte in Zeiten, in denen noch keine Talsperre den Zulauf aus dem Gebirge regulierte, allzu häufig die sogenannte Eisfahrt, auch Eisgang genannt: Wärmere Tage brachten Schnee und Eis im Harz zum Tauen, und auf Thale rollte durchs Bodetal geradezu eine Flutwelle aus Schmelzwasser zu. Sie zerstörte nicht nur Hab und Gut der Einwohner, sondern forderte über Jahrhunderte auch immer wieder Menschenleben, wie Gerda Todte aus der Kirchenchronik von Thale erfahren hat.
Bauholz, Fenster und Betten schwimmen im Fluss aus dem Hochharz herab
Die ersten so verursachten Todesfälle, die die von 1598 bis 1929 reichende Chronik nennt, trugen sich zum Ende des 17. Jahrhunderts zu, wie die frühere Kirchenarchivarin und heutige Rentnerin darlegt. So habe die „Bude“ - eine einheitliche Schreibweise für den Namen des Flusses wurde erst im 20. Jahrhundert eingeführt - 1692 das Leben eines Mädchens „von der Hütte“ gefordert, 1694 jenes eines 18-jährigen Mädchens aus „Harzigerode“ und 1697 zwei weitere Leben von Menschen, deren Identität heute nicht mehr bekannt ist.
Eindrücklich hielt Pfarrer Wilhelm Brandt, der Verfasser der Chronik, die Gerda Todte in den 1990er Jahren digitalisierte, seinerzeit die Überlieferungen eines Hochwassers aus dem Dezember 1740 fest: „Von Hartze herunter kam viel Bauholtz von umgerissenen Häußern, nebst Hausgerath an Coffre, Backtrog, Fenstern, Wiegen, Betten etc. gefloßen.“
Das Hochwasser von bis dahin in Thale ungekannten Ausmaßen - „dergleichen niemand denken kan“ - ließ den Ort selbst jedoch mit dem Schrecken zurück und richtete im flachen Land keinen weiteren Schaden mehr an.
Wenige Jahrzehnte später sollte sich allerdings zeigen, dass der Bereich rund um den Bleicheplatz und die heutige Forellenbrücke den Wassermassen bei Extremschmelzen besonders schutzlos ausgeliefert war. „Oft türmte sich das Eis am Bleicheplatz auf, und das Wasser floss dann seitlich links an diesem Hindernis vorbei“, beschreibt Gerda Todte ein Muster, das nachher noch einige Male beobachtet wurde, jedoch für den 14. Dezember 1774 erstmals dokumentiert ist.
„Oft türmte sich das Eis am Bleicheplatz auf, und das Wasser floss dann seitlich links an diesem Hindernis vorbei.“
Gerda Todte, Rentnerin und Kirchenarchiv-Kennerin
„So ist gedachten Tages Nachmittages nach 12 Uhr die Eyßfahrt aus dem Gebürge in schneller Furie angekommen“, schreibt Pfarrer Brandt in seiner Chronik, „und hat die gantze Bude, welche noch völlig mit Eyß so zu sagen zugestopfet war, mit Gewalt aufgerißen.“
Vor den Niedermühlen an der heutigen Forellenbrücke sei das Eis jedoch zu hart gewesen, habe nicht nachgegeben, und die Fluten suchten sich ihren Weg durch den „Buscheschen Garthen“ und das „Hartwigsche adlige Guthe“ - heute ist das das Gelände des Landesinstituts für Lehrerfort- und -weiterbildung. Häuser und Gärten bleiben verwüstet zurück, doch Menschenleben fordert dieses Hochwasser nicht.
Wie sehr das Wasser einst das Leben der Menschen an seinen Ufern bestimmte, zeigt auch eine kuriose Anekdote aus dem Jahr 1803: Damals, legt Todte dar, sei an Heiligabend eine Frau auf der Hütte durch einen Fall von einer Treppe verunglückt. Weil sich der Kirchhof von Thale aber auf der anderen Seite der Bode befand, die zu dieser Zeit Eisgang führte und kurz zuvor die dortige Brücke weggerissen hatte, wurde die Verstorbene am 27. Dezember in Neinstedt beerdigt, das zwar weiter weg, aber am selben Ufer des reißenden Stroms lag und für die Hüttenarbeiter erreichbar war.
Warmer Regen bringt Schnee zum Schmelzen - die Katastrophe nimmt ihren Lauf
Die letzte Hochwasserkatastrophe, von der die Dokumente in Gerda Todtes Sammlungen zeugen, ist in einem Auszug aus dem katholischen Kirchenarchiv geschildert. Wiederum suchte sie Thale im Dezember heim, diesmal am 30. des Jahres 1925.
„Ein plötzlicher Temperatursturz verbunden mit warmem Regen ließ in kurzer Zeit den nach Weihnachten im Harz gefallenen Schnee schmelzen“, berichtet der Zeitzeuge und Pfarrer Joseph Rhode, der wie zuvor Brandt von einem Hochwasser schreibt, „wie seit Menschengedenken hier nicht gewesen“.
Weggerissene Ufermauern, ausgespülte Grundstücke - für den Wiederaufbau mussten die Thalenser nach dem Jahreswechsel 10.936 Mark hinblättern, was angesichts des damaligen Lohn- und Kostenniveaus eine riesige Summe war.