"Es gab keine Sonderbehandlung" Dalia Haj Oubaid floh 2016 aus Syrien nach Deutschland: 2020 macht sie Abitur am Gymnasium Thale mit 15

Thale - Dalia Haj Oubaid ist eine von einigen Hunderttausend Schülerinnen, die diesen Sommer in Deutschland ihr Abiturzeugnis entgegennahmen. Die allgemeine Hochschulreife zu erlangen ist eine Leistung - die Abschlussprüfungen wie Oubaid mit der Note 1,5 zu bestehen und damit Drittbeste ihres Jahrgangs am Europagymnasium „Richard von Weizsäcker“ in Thale zu werden, eine noch größere.
Dabei liegt hinter der 20-Jährigen alles andere als ein geradliniger Bildungsweg. Ihr Heimatland Syrien musste sie im Herbst 2016 wegen des andauernden Bürgerkriegs verlassen. „Meine Familie und ich sind erst mal in die Türkei geflüchtet“, berichtet Oubaid.
Das Nachbarland ist von ihrer früheren Heimatstadt Idlib nur 20 Kilometer Luftlinie entfernt. Islamistische Rebellen hatten die Stadt 2015 eingenommen, immer öfter sei es zu Bombenangriffen gekommen. „Die Lage war katastrophal“, schildert Oubaid.
„Wir lebten jeden Tag mit der Angst zu sterben.“ Für ihren älteren Bruder Omar habe die Eroberung der Rebellen eine weitere Gefahr mit sich gebracht: „Sie hätten mich zum Kampf mitgenommen“, erklärt er, warum er anderthalb Jahre vor dem Rest der Familie als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland geflohen war.
„Wir lebten jeden Tag mit der Angst zu sterben“, berichtet Dalia Haj Oubaid
Seine Schwester Dalia war gerade mit der neunten Klasse fertig, als sie mit ihren Eltern und dem jüngeren Bruder ihr bisheriges Leben hinter sich ließ und die Flucht aus der zerbombten Stadt antrat. „Wir hatten keine Zukunft“, begründet die junge Frau, „man kann dort gar nicht mehr leben.“
Während des Aufenthalts in der Türkei habe sie die zehnte Klasse besucht, die Anerkennung ihrer schulischen Leistungen sei dort kein Problem gewesen.
Anders sah das in Deutschland aus, wohin die Oubaids Ende 2016 weiterreisten, nachdem Omar im „krampfhaften Prozess“ des Familiennachzugs alle Bedingungen erfüllt hatte. Das sachsen-anhaltische Landesschulamt habe, so der große Bruder, bei der neu in Thale angekommenen Dalia vor allem ihre fehlenden Sprachkenntnisse als Argument gegen den von ihr angestrebten Besuch des Gymnasiums angeführt.
In der Tat, sagt die Syrerin, habe sie bei ihrer Ankunft im Harz kein einziges Wort Deutsch gesprochen. „Dann habe ich mir aber die B1-Bücher meines Bruders für Deutsch als Fremdsprache geschnappt und zweieinhalb Monate konzentriert gelernt.“
Nach langem Hin und Her mit der Behörde in Halle, die der damals 16-Jährigen den Besuch einer Berufsschule nahegelegt habe, hätten sich die Geschwister entschieden, selbst die Schulleitung des Europagymnasiums aufzusuchen und für Dalias Aufnahme vorzusprechen. Omar lernte dort damals selbst als Schüler.
Bruder Omar sprach bei Schulleitung vor und bat um Aufnahme seiner Schwester
Dalia Haj Oubaid strahlt, als sie vom Ergebnis des Gesprächs mit der Schulleiterin und ihrer späteren Deutschlehrerin Sabine Hesse erzählt. „Ich durfte mich für den Rest des Schuljahres als Zuhörerin in die neunte Klasse setzen und danach voll in die zehnte Klasse einsteigen“, berichtet sie.
So sei sie zwar quasi um ein Schuljahr zurückversetzt worden - angesichts der Berechtigung, das Gymnasium zu besuchen, sei das aber ein kleiner und verschmerzbarer Wermutstropfen gewesen. Einfach nur zuhören zu dürfen habe ihr besonders mit Blick auf die zuvor mühsam im Selbstunterricht angeeigneten Deutschkenntnisse weitergeholfen.
In anderen Fächern wie Englisch oder Mathe, in denen die Sprachbarriere niedriger und die Fachbegriffe weniger waren, habe sie sich hingegen fast von Anfang an auch selbst gemeldet, gefragt und im Unterricht mitgeredet.
Ihre Lehrer und Mitschüler, betont die junge Frau, hätten ihr mit ihrer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft den Einstieg ins deutsche Schulsystem leicht gemacht. So konnte es sie nicht mehr aus der Ruhe bringen, als in den letzten Schuljahren plötzlich Fächer wie Sozial- und Rechtskunde auf dem Stundenplan standen, die in Syrien nicht unterrichtet worden waren.
Mit jeder Vokabel und jedem Fremdwort, erklärt Oubaid, sei das Lernen einfacher geworden, der Wortschatz größer. „Ich habe mich als Teil der Klassengemeinschaft gefühlt“, drückt sie ihre Empfindung aus. „Die zwölfte Klasse hat mir besonders Spaß gemacht.“
Lehrer und Mitschüler unterstützten sie freundlich, sagt Dalia
Von Beginn an habe sie großen Wert darauf gelegt, sich alle Begriffe gleich in der richtigen Schreibweise einzuprägen - denn die Lehrer hätten gleiches Recht für alle walten lassen und ihre Fehler nicht nachsichtiger behandelt als die ihrer Mitschüler.
„Ich habe keine Sonderbehandlung erhalten“, stellt Dalia Haj Oubaid klar, „und das wollte ich auch nicht.“ Ihre schriftlichen Abiturprüfungen habe sie in diesem Frühjahr in Mathe, Chemie, Englisch und Geschichte abgelegt, ihre mündliche in Ethik. Die großen Abi-Feierlichkeiten seien dann, wie überall, wegen Corona ausgefallen. „Aber wir haben versucht, das Beste daraus zu machen“, sagt die 20-Jährige, die vor allem froh war, den Lernstress mit einem Mal los zu sein.
Mit dem Abschluss in der Tasche will die junge Syrerin jetzt gern studieren, wie ihr Bruder Omar, der an der Fachhochschule Südwestfalen immatrikuliert ist und mittlerweile in Dortmund wohnt. Der Rest der Familie lebt nach wie vor im Harz:
Dalia Haj Oubaid strebt ein Medizinstudium an der Universität Greifswald an
Ihr jüngerer Bruder gehe in Wernigerode zur Schule, zählt die Abiturientin auf, ihr Vater habe als Maschinenbauingenieur schon wenige Monate nach der Ankunft einen neuen Arbeitsplatz in Warnstedt gefunden. Die Mutter, früher Anwältin, bemühe sich um eine Stelle als Sachbearbeiterin.
Dalia Haj Oubaid strebt ein Medizinstudium an, am liebsten in Greifswald, Hamburg oder Magdeburg - sie weiß aber, welche hohen Hürden zu nehmen sind, bevor dieser Traum Realität werden kann. „Deshalb lerne ich im Moment wieder, diesmal für den Hamburger Naturwissenschaftstest“, erklärt Oubaid. Mit ihm wird die Eignung von Anwärtern für ein Medizinstudium festgestellt. (mz)