1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Landkreis Harz
  6. >
  7. Bloß nichts essen: Bloß nichts essen: So erlebte dieser 22-Jährige seine Magersucht und das half ihm raus

Bloß nichts essen Bloß nichts essen: So erlebte dieser 22-Jährige seine Magersucht und das half ihm raus

Von Julius Lukas 10.08.2019, 10:00
Aron Boks war magersüchtig. Etwa zehn bis 15 Prozent der Anorexie-Patienten sind Männer.
Aron Boks war magersüchtig. Etwa zehn bis 15 Prozent der Anorexie-Patienten sind Männer. Jérôme Depierre

Wernigerode/Berlin - Die Einsicht traf Aron Boks wie ein Hammerschlag. Heftig und unerwartet. Plötzlich sah der junge Mann seine Situation klarer. Kaffee, Zigaretten und Alkohol - das reicht nicht zum Überleben. Der Körper braucht mehr, er braucht Nahrung.

Doch Boks wollte seinem Körper viele Monate lang keine Nahrung geben. Jedes Gramm war zu viel. Den Hunger unterdrücken, bloß nichts essen - das war seine tägliche Beschäftigung.

Boks, der in Wernigerode geboren wurde und in Blankenburg (Harzkreis) aufwuchs, war magersüchtig. Dass auch ein Mann dieses Problem haben kann, das konnte er sich lange nicht eingestehen.

Doch dann schlug die Kardiologin zu. Dann kam der Hammer im Krankenbett einer Klinik. Der große Knall. Die Ärztin sagt dem 22-Jährigen, dass er Herzprobleme habe. Ernste Herzprobleme. Verursacht durch seine Mangelernährung.

„Als würde mir jemand einen Eimer Wasser über den Kopf gießen“

„Das war, als würde mir jemand nach einer durchzechten Nacht einen Eimer Wasser über den Kopf gießen“, sagt Boks. „Mir wurde schlagartig klar: Die Party ist vorbei.“

Der Aufenthalt in der Klinik, der Weckruf der Kardiologin - das wurde zum Wendepunkt im Leben von Aron Boks. Von diesem Moment an bekam er seine Krankheit in den Griff. Nun hat er ein Buch über das Leiden geschrieben, das ihn lange begleitete und das er eigentlich noch immer mit sich herumschleppt.

„Luft nach unten - wie ich mit meiner Magersucht zusammenkam und mit ihr lebte“, lautet der Titel seines Werkes. Es ist Boks’ fünftes Buch. Für seine Erzählung „Dieses Zimmer ist bereits besetzt“ erhält er in diesem Jahr sogar den Literatur-Förderpreis des Landes Sachsen-Anhalt.

Aron Boks schreibt in aktuellem Buch auch von seinen Erfahrungen

In seinem aktuellen Buch vermischt Boks seine eigenen Magersucht-Erfahrungen mit denen anderer Betroffener. „Hauptsächlich beruht das Buch auf meinen Erlebnissen, es ist aber eben auch die Geschichte tausender Menschen mit dieser Krankheit“, sagt Boks.

Er wolle mit diesem Blick in seine Gedanken- und Gefühlswelt aufklären. „Zu viele Leute meinen, sie wüssten über Anorexie Bescheid, obwohl sie keine Ahnung davon haben.“

Magersucht, oft auch  Anorexie genannt, gehört zu den Essstörungen, von denen vor allem junge Frauen betroffen sind. Der Großteil ist zwischen zwölf und 28 Jahren alt. Magersüchtige gestehen sich ihre Krankheit häufig nicht ein. Sie wollen dünner werden und sie können hungern. Langfristig kann Magersucht zu schwerwiegenden körperlichen Problemen wie Hautschäden, Mangelerscheinungen und Entkalkung der Knochen  führen.

Mehr Infos, auch zu Beratungsstellen: www.bzga-essstoe-rungen.de

Wie das Hungern bei ihm anfing, kann sich Boks bis heute nicht genau erklären. „Denn den einen Auslöser, das eine einschneidende Erlebnis gab es nicht“, sagt der 22-Jährige, der heute in Berlin lebt und dort als Schriftsteller arbeitet.

Es seien mehrere Puzzleteile gewesen, die sein Körpergefühl langsam verschoben, die seine Wahrnehmung von sich selbst Stück für Stück verzerrten.

Begonnen habe das schon in seiner Jugend - wobei er damals von einer Anorexie noch weit entfernt war. In seinem Umfeld machten sich Freundinnen und Freunde damals zunehmend Gedanken über ihr Äußeres.

Der Weg in die Magersucht begann zunächst harmlos

Mal spannte das T-Shirt zu sehr, mal waren die Oberschenkel zu voluminös. Andere störten sich an ihrer zu pickeligen Haut. Eigentlich normal, eigentlich jugendtypisch.

Ihn habe das anfangs gar nicht so beschäftigt, sagt Boks. Doch mit zunehmender Intensität der Selbstbeschäftigung und Selbstbeurteilung um ihn herum breitete sich auch in seinem Kopf ein gewisses Unbehagen aus.

Er begann, mit sich selbst zu hadern. „Ich dachte: Könnte ich nicht auch etwas besser aussehen, vielleicht etwas dünner sein - um solche Fragen kreisten plötzlich meine Gedanken.“

Er habe zwar gewusst, dass das Quatsch ist. Gewichtsprobleme hatte er nicht. Zu dick sei er keinesfalls gewesen. Doch die Gedanken waren da, und es wurden immer mehr.

„Ich wusste nicht wohin mit diesen Sorgen.“

Hilfe findet Aron Boks in dieser Zeit nicht. „Ich wusste nicht wohin mit diesen Sorgen.“ Er empfindet Scham, darüber zu sprechen.

„Denn gerade als Junge sollte man solche Gedanken doch nicht haben. Nur Frauen beschäftigen sich mit ihrer Figur. Zu dick, nicht schön? Das sind Mädchenprobleme. Männer müssen darüber nicht nachdenken, die sollten sich zusammenreißen - so empfand ich das damals.“

Seine Essstörung sei anfangs für ihn ein Spiel gewesen. „Ich hatte das gar nicht so ernst genommen, eher als eine Herausforderung gesehen: Mal nichts essen, austesten, wie lange das geht.“ Boks zieht in dieser Zeit nach Berlin.

Das asketische Leben passt zu seinem Selbstverständnis als Künstler. Er schreibt Texte für eine Tageszeitung und für Auftritte am Abend. Poetry Slam nennt sich dieses Format, bei dem man das Publikum mit literarischen Wortbeiträgen für sich gewinnen muss.

Doch der Trieb, immer weniger zu sich zu nehmen, wird bald zur Sucht

Doch der Trieb, immer weniger zu sich zu nehmen, wird bald zur Sucht. „Nun ging es eigentlich gar nicht mehr darum, schön zu sein. Schönheit war gar keine Kategorie mehr. Es ging ums Gewicht, um jedes Gramm. Alles Überschüssige an meinem Körper musste weg. Und wenn ich das geschafft hatte, trieb mich dieser Erfolg wieder an.“

Die Waage wird zum wachsamen und aggressiven Motivationstrainer. Und in Boks’ Kopf entsteht etwas, was er heute als Essstörungsstimme bezeichnet. Eine negative Gedanken produzierende Instanz, die zunehmend Platz beansprucht.

„Sie verbietet einem zu essen, warnt vor jeder Nahrungsaufnahme und wird zum Vormund im eigenen Kopf. Sie ist auch Quell einer Paranoia. Ich dachte damals, jeder sei gegen mich und ich könnte keinem vertrauen. Daher begann ich, mich zu isolieren. Denn soziale Kontakte waren eine potenzielle Gefahr. Andere hätten mein Verhalten hinterfragen können. Das galt es zu vermeiden.“

Magersucht: Wenn der Ruf des Körpers nach Nahrung stumm gestellt wird

Seine ganze Energie verwendet er nun darauf, den Ruf seines Körpers nach Nahrung lautlos zu machen. Ein harter Kampf, denn: „Der Hunger ist ein treuer Weggefährte, in gewisser Hinsicht ein Sandkastenfreund. Am Anfang wehrt er sich und schreit und streitet. Vor allem in der Nacht, vor allem, wenn es still ist, wenn man allein ist mit ihm“, schreibt Boks in seinem Buch.

Doch es gelingt ihm, die innere Stimme weitestgehend verstummen zu lassen. Er betäubt sie mit Alkohol, windet sich um jede Nahrungsaufnahme herum. Und wenn er doch einmal auf Menschen trifft und vielleicht sogar mit ihnen essen muss, entwickelt Boks Strategien.

Er erfindet eine Blasenentzündung, durch die er oft zur Toilette gehen kann, wo er das Essen ausspuckt. Er tut so, als würde er angerufen - oder fachsimpelt über die Tomatensoße, die doch eine Stunde ziehen müsse.

So verhalten sich Betroffene der Magersucht

Dabei schneidet er die Obst- und Gemüsestückchen auf seinem Teller in immer kleinere Teile - so vergeht das Essen, ohne dass er auch nur einen Bissen zu sich nimmt.

„Die Signale des Körpers registriert man in dieser Zeit nicht. Man ist so sehr auf sein Äußeres konzentriert. Alles ist darauf ausgerichtet, dünner zu werden. Energie für anderes gibt es nicht. Zumal ohnehin kaum noch Energie da ist“, so der 22-Jährige.

Oft sei er gefragt worden, ob das Schreiben des Buchs sein Weg aus der Krankheit gewesen sei. „Das war es nicht“, sagt Boks. „In der Zeit, in der die Anorexie am heftigsten war, hatte ich kaum genug Kraft, aus dem Bett aufzustehen. Ein Buch schreiben? Utopisch!“

Aron Boks: Auswege aus der Magersucht

Der Schubs aus der Welt des Hungerns kam von außen. Aus seinem Umfeld. „Freunde und Familie drängten mich, in eine Klinik zu gehen. Die wirkliche Einsicht, dass ich ein Problem habe, kam dann aber erst in der Kardiologie.“

Diese Intervention von außen, dieses hartnäckige Drängen darauf, etwas gegen sein Problem zu tun - dass sei für ihn wichtig gewesen.

„Ich weiß, dass viele Angehörige und Freunde auch wütend auf Menschen mit Anorexie sind. Es ist ja auch schwer, mit ihnen umzugehen. Aber man darf diese Wut nicht an ihnen auslassen. Es ist eine Krankheit, die die Betroffenen komplett verändert - innerlich wie äußerlich.“

Was bei Boks half, war die Therapie. Bei zwei Klinikaufenthalten lernte er, mit seiner Krankheit umzugehen. „Ich würde zwar schon sagen, dass ich geheilt bin. Aber ich weiß auch, dass ich immer aufpassen muss. Das ist wie bei einem trockenen Alkoholiker. Trinkt der ein Glas Bier oder Wein, dann ist die Sucht wieder da. Ich muss also aufpassen, dass diese Stimme in meinem Kopf nicht wieder lauter wird.“ (mz)

„Luft nach unten“ von Aron Boks ist bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen und kostet 14,99 Euro.