Todesfall Oury Jalloh 5.000-Euro-Spende an Hinterbliebene im Todesfall Oury Jalloh: Willi Retzlaff aus Straßberg im Harz überweist Geld nach Guinea

Strassberg/Conakry - Ein wenig hilflos steht Willi Retzlaff in der Redaktion der MZ in Quedlinburg. Es ist ein heißer Tag Mitte August, und es fällt ihm schwer zu laufen. Der Mann aus Straßberg ist 85 Jahre alt, und seine Knie sind kaputt. Aber er weiß genau, was er will: „Ich möchte 5000 Euro an die Familie von Oury Jalloh spenden.“
Eine Zeitung ist weder eine Bank noch eine gemeinnützige Organisation. Einerseits. Andererseits aber kann sie einem Mann wie Willi Retzlaff auch nicht seinen Wunsch abschlagen. Es war klar, dass das nicht leicht werden würde. Dass es am Ende Monate dauern würde, ehe die 5000 Euro sicher nach Afrika gelangen - damit rechnete jedoch niemand.
Todesfall Oury Jalloh: Er starb am 7. Januar 2005 in einer Polizeizelle in Dessau
Oury Jalloh ist am 7. Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle unter bislang ungeklärten Umständen verbrannt. Willi Retzlaff fühlt sich mitverantwortlich für den Tod des Mannes aus Sierra Leone. Seine Argumentation mag schräg wirken, letztlich folgt sie aber einer einfachen Logik:
„Der deutsche Staat hat das Gewaltmonopol“, sagt Retzlaff, als wir ihn Ende Dezember wiedertreffen. „Damit bin ich als Deutscher auch zum Teil am gewaltsamen Tod Jallohs schuld.“
Es gibt noch einen zweiten Grund, warum Retzlaff Jallohs Angehörige unterstützen möchte. Seine Familie stammt aus Groß Orlin, einem kleinen Ort, etwa 100 Kilometer südöstlich von Posen im heutigen Polen. Sein Patenonkel sei in den 1930er Jahren regelmäßig monatelang als Erntehelfer zur Zuckerrübenernte nach Westdeutschland gefahren.
Spender Willi Retzlaff erinnert sich an Berichte seines Patenonkels aus Posen, der vor 90 Jahren Ablehnung erfahren hat
„Schon damals hieß es: ,Die Flüchtlinge nehmen uns die Arbeit weg‘“, sagt Willi Retzlaff. Sein Onkel sei damals genauso wenig willkommen gewesen wie Oury Jalloh 80 Jahre später. „Jallohs Familie soll das Geld so anlegen, dass sie nicht hungern muss“, sagt Retzlaff.
Aber hat Jalloh überhaupt eine Familie? Und wenn ja: Wie erreicht man sie? Um das herauszufinden, reicht nicht ein Blick ins Telefonbuch.
Dafür kann Jallohs Freund Mouctar Bah weiterhelfen. Er kämpft seit Jahren für die Aufklärung der Todesumstände des Afrikaners. „Ich fühle mich wie ein kleiner Affe, der im Wald schreit und den niemand hört“, sagt Bah.
Er kann berichten, dass die Familie in der Nähe von Guineas Hauptstadt Conakry lebt. Jallohs Mutter sei gestorben, aber es gebe einen Bruder - Saliou Diallo. Nun muss nur noch das Geld von Straßberg nach Conakry fließen. Doch die Harzsparkasse bietet aus Sicherheitsgründen keinen Transfer nach Guinea via Western Union an.
Auch ein deutsches Kirchenprojekt, von denen es viele in Ostafrika gibt, ist im westafrikanischen Guinea nicht als Unterstützer der Transaktion zu finden. Stattdessen fragt die MZ bei den SOS-Kinderdörfern nach. Die Organisation unterhält eines ihrer Dörfer in Conakry.
„Wir dürfen aus finanzrechtlichen Gründen leider kein Fremdgeld annehmen, überweisen und dann an Nicht-SOS-Beschäftigte auszahlen“, teilt Sprecher Louay Yassin nach einer Prüfung der Anfrage Anfang September mit. „Wir müssten dieses Geld versteuern – hier in Deutschland und dann noch mal in dem Zielland.“ Eine Sackgasse also.
Todesfall Oury Jalloh: Salio Diallos Anwältin hilft beim Geld-Überweisen nach Guinea
Doch dann öffnet sich eine neue Tür: Bärbel Böhler, Salio Diallos Anwältin aus Berlin, schaltet sich ein. An sie kann Retzlaff das Geld überweisen. 2.500 Euro gehen nach Berlin, und weitere 2.500 - so hat es Retzlaff mittlerweile entschieden - bekommt das SOS-Kinderdorf in Conakry. Es ist ein glücklicher Zufall, dass Jallohs Bruder im Oktober nach Deutschland kommt, um gemeinsam mit der „Initiative in Gedenken an Jalloh“ ein neues Gutachten vorzustellen.
„Ich habe das Geld persönlich an den Bruder ausgezahlt“, bestätigt Bärbel Böhler der MZ. „Er war total beglückt und sehr berührt“, sagt die Anwältin. „Er empfand das über das Geld hinaus als eine solidarische Geste.“ Die 2.500 Euro werde er für den Lebensunterhalt der Jalloh-Familie in Guinea nutzen.
Das bestätigt auch Mouctar Bah. „Jedes Familienmitglied - es sind ungefähr 200 Leute - wird etwas davon bekommen.“ Diallo gehe es nicht gut, sagt Bah. „Er ist durch den Tod seines Bruders krank geworden.“
Das neue Gutachten zu den Todesumständen Jallohs stützt sich auf Computertomografie-Aufnahmen von 2005. Danach hat der Verhaftete Knochenbrüche der Nase, des Schädels und einer Rippe noch vor seinem Feuertod erlitten.
Todesfall Oury Jalloh: CT von 2005 zeigt Knochenbrüche, die vor dem Tod entstanden sein sollen
Mit einer Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht will Jallohs Familie jetzt erzwingen, dass die Ermittlungen zu den Vorgängen in der Dessauer Polizeizelle wieder aufgenommen werden. „Es ist der skandalöseste Fall, den ich je erlebt habe“, sagt Anwältin Bärbel Böhler. Mouctar Bah versichert: „Wir werden weiterkämpfen.“
Und Willi Retzlaff wird den Fall weiter verfolgen. Er habe sich die 5.000 Euro übrigens nicht vom Munde abgespart, versichert er. Retzlaff, dessen Frau vor sechs Jahren gestorben ist, hat viele Jahre als Bauschlosser unter Tage gearbeitet und bekommt eine recht gute Rente.
Nachdem er das Geld für ein neues Auto gespart hatte, entschloss er sich, das billigste zu kaufen: einen Dacia für 7.500 Euro. Und so blieb genug Geld übrig. Für Oury Jallohs Familie und die Kinder im SOS-Kinderdorf in Conakry. (mz)
