Philanthropinum-Ausstellung in Dessau Unter der Lupe
Oldschool oder Avantgarde? Das fragt eine Ausstellung, die in Dessau die Geschichte der vor 250 Jahren gegründeten Reformschule Philanthropinum näher betrachtet.
DESSAU-ROSSLAU/MZ. - Der Fürst ist nicht amüsiert. Immer Ärger mit dem Philanthropinum – der im Dezember vor 250 Jahren in Dessau gegründeten Reformschule der „Menschenfreundschaft“. Dass ihn das Unternehmen „schweres Geld koste, und er doch nichts davon habe“, poltert 1779 Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau. Dass „die Lehrer gegen einander nur Misstrauen hätten“, dass sie am Ort „nicht glücklich wären“, dass er sich selbst bei der Förderung der Schule „eine Gränze setzen müsse“.
Notiert hat die Standpauke Christian Hinrich Wolke, der 1771 gemeinsam mit dem Schulgründer Johann Bernhard Basedow nach Dessau gerufen worden war. Angeblich, um ein „beßeres Aufleben“ der Schulen am Ort zu befördern, tatsächlich aber auch, um das Prestige des Fürsten zu heben. Letzteres ist immerhin gelungen – und zwar so gut, dass der führende deutsche Philosoph der Zeit, Immanuel Kant, vom Dessauer Philanthropinum als der „Stammmutter aller guten Schulen“ sprach.
„Krachend“ gescheitert
„Oldschool oder Avantgarde?“ Das ist hier die Frage. Und die Frage ist der Titel der Ausstellung, die im Dessauer Museum für Stadtgeschichte aus gegebenem Anlass die „alte Schule neu erzählt“. Kuratiert von Michael Rocher (Siegen), Andreas Pecar (Halle), Karin Weigt und Frank Kreißler (Dessau-Roßlau) diskutiert die Schau die „Experimentalschule“ auf der Höhe der aktuellen Forschung.
Es ist keine Goldrähmchen-Schau, die zuerst ein lokalpatriotisches Wohlgefühl füttert, sondern eine Ausstellung, die im Detail instruktiv und aufs Ganze gesehen kontrovers die Geschichte der Schule abbildet, die in der Lesart der Kuratoren 1793 schließlich „krachend“ gescheitert sein soll.
Den Betrachtern der von Designstudenten der Hochschule Anhalt gestalteten Schau werden denn auch zahlreiche Dokumente geboten, wie etwa Wolkes Gesprächsnotiz von 1779, die der Besucher mit einer Lupe als „Mitmachelement“ studieren kann.
An Begriffspaaren entlang wird die Geschichte der Schule dokumentiert, deren Normalzustand der Krisenmodus war: „Prestige/ Ambition“, „Lehrer/ Konflikte“ oder „Bildung/ Kontrolle“. Geschäftlich war das Unternehmen, das kein staatliches, sondern ein privatwirtschaftlich geführtes und fürstenstaatlich gefördertes und kontrolliertes Projekt war, fast durchweg in einer prekären Situation. Immer fehlt etwas: Geld, Lehrer, ein Chef.
„Oldschool“, das meint die anschauliche Realienbildung, die es auch bereits an anderen Schulen gegeben hatte. Es meint den Umstand, dass das Philanthropinum keinesfalls ein Haus für alle, sondern eine teure Schule für wenige, nämlich für die Oberschicht und gehobene Mittelschicht war. „Avantgarde“ markiert unter anderem den Experimentalcharakter des Unternehmens, den großen Ausstoß an Theorie- und Kinderliteratur, den Anspruch, nicht nur die Schüler, sondern auch die Erzieher erziehen zu müssen, das Erzeugen von medialer Reichweite. Die Schau startet mit Basedow und dem Fürsten, der den lautstärksten Reformpädagogen der Zeit 1771 vom dänischen König auslieh, wie auf einem Lupentext zu lesen ist. Das Personal der Schule rückt in den Blick: die Lehrer, die Schüler. Letztere entstammen zu 40 Prozent dem Adel, zu 30 Prozent Kaufmannsfamilien, im Schnitt waren die Kinder bei Aufnahme sieben bis neun Jahre alt, womit dem Hauslehrersystem Konkurrenz gemacht wurde.
Wie sehr die Schule auf „Tugend“, also auf die kontrollierte Einübung in die Gesellschaft setzte, teilt sich auf Schritt und Tritt mit. Eine „Meritentafel“, also im DDR-Sprachgebrauch eine „Tafel der Besten“, machte die Fortschritte der Zöglinge kenntlich – ein düsteres Brett, das vor 1989 in einem Flur der „Erweiterten Oberschule Philanthropinum“ hing.
Die Schau stellt namhafte Lehrer der Schule vor: unter anderen Campe, Salzmann, Trapp und Matthisson. Und einige ihrer Schüler, zu denen nicht allein der Dessauer Erbprinz, sondern auch der spätere Fürst Leopold I. zur Lippe gehörte, der im Alter von 13 Jahren als schwer erziehbar nach Dessau geschickt wurde. Ein Gemälde zeigt ihn als Kind mit Fransenschnitt und Kinderfabelbuch.
Viel Material wird geboten, das in Teilen auch den bereits geschulten Betrachter voraussetzt. So wird etwa der Umstand, dass die Schule auf einen überkonfessionellen Religionsunterricht setzte am Beispiel eines Chodowiecki-Kupferstiches erwähnt, der Basedow bei einer seiner „Gottesverehrungen“ zeigt. Aber genau diese Praxis war für die Zeitgenossen etwas Neues und Skandalträchtiges. Wie stark die Wirkung der Schule war, zeigt eine Deutschlandkarte, die die vielen Nachgründungen zeigt.
„Cool“ und „smash“
Oldschool oder Avantgarde? Für den Besucher liegen an einzelnen Stationen Postkarten zur Sache aus, die zu einem Urteil befähigen sollen. Zu dem fordern am Ende zu beschriftende Klebezettel auf. Das Urteil „Oldschool“ überwiegt, aber nicht abwertend, sondern mit Kommentaren wie: „ist smash“ (heute: großartig, sexy), „ist cool“. Oder: „Ist die Avantgarde nicht Oldschool?“. Antworten, die zeigen, dass die Geschichte der Schule nicht auserzählt ist. Ein besseres Geschenk kann es zu einem 250. Geburtstag nicht geben.
Bis 31. Dezember: Museum für Stadtgeschichte Dessau (Johannbau). Mi-So 10-17 Uhr. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre Eintritt frei