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Kinder-Reha Kinder-Reha: Sorgenkind Therapie

Von Bärbel Böttcher 07.05.2012, 17:53

Halle (Saale)/Bad Kösen/MZ. - In der Kinder-Reha-Klinik "Am Nicolausholz" in Bad Kösen (Burgenlandkreis) herrscht nachmittägliche Ruhe. Im Schwimmbad tummelt sich eine Familie. In der Sporthalle üben Kinder auf dem Trampolin. Der Fitness-Raum ist völlig verwaist. "Die meisten Therapien sind für heute bereits abgeschlossen", erklärt Chefärztin Sabine Fiedler die Ruhe. Viele ihrer Schützlinge beschäftigten sich auf ihren Zimmern oder sind im Park unterwegs. Teils mit ihren Eltern.

Und doch könnte es nach dem Geschmack der Medizinerin lebhafter zugehen. Die Einrichtung, die einzige Reha-Klinik in Sachsen-Anhalt, in der nur Kinder und Jugendliche therapiert werden, leidet an einer Unterbelegung. Von den 160 Betten sind meist nur 100 belegt. "Wir haben eine Auslastung von knapp 65 Prozent", sagt Kerstin Budde-Große, kaufmännische Direktorin der Einrichtung. "Um schwarze Zahlen zu schreiben, wäre eine höhere Auslastung nötig."

Die Klinik ist nicht die einzige mit diesen Problemen. Die Zahl der Anträge für Kinder- und Jugend- Reha-Kuren ist rückläufig. Wurden 2007 bundesweit noch 85 166 Anträge gestellt, waren es laut Rentenversicherung, die neben den Krankenkassen die Maßnahmen bewilligt, 2011 nur noch 72 186 - ein Minus von 15,2 Prozent. In Mitteldeutschland ist der Rückgang nicht ganz so stark. 6 151 Anträgen im Jahr 2007 standen hier 5 564 Anträge im Jahr 2011 gegenüber. 9,5 Prozent weniger.

"Sicher, angesichts des Rückgangs der Geburtenrate haben wir mit weniger Anträgen gerechnet", sagt Ina Ueberschär, Vize-Geschäftsführerin der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland. Dennoch falle der Rückgang stärker aus als es die demografische Entwicklung vermuten lasse. Und es sei auch nicht davon auszugehen, dass der Bedarf geringer geworden sei. "Übergewicht, Verhaltensauffälligkeiten, Sprech- und Sprachstörungen, Asthma, chronische Bronchitis, Neurodermitis - alles Krankheiten, die eher häufiger geworden sind."

Angst vor Hartz-IV-Kürzung

Wo also könnten die Gründe liegen? "Es sind oft Kinder aus so genannten bildungsfernen oder sozial schwachen Familien, die eine solche Rehabilitation nötig haben", sagt Ina Ueberschär. Doch gerade in diesen Familien sei das oft kein Thema. Und wenn der Kinder- oder Hausarzt eine Reha ins Gespräch bringe, finde er oft kein Gehör. "Die Mütter und Väter haben die unbegründete Sorge, dass die Hartz-IV-Bezüge reduziert werden, wenn das Kind vier oder sechs Wochen nicht im Haus ist." Oder sie hätten kein Geld, dem Kind den vielleicht benötigten Trainingsanzug zu kaufen. Oder kein Reisegeld, es in der Einrichtung mal zu besuchen.

Mitunter, so Ina Ueberschär, rate auch die Schule ab, weil das Kind wegen der Krankheit ohnehin schon viel Unterricht versäume. "Aber", so sagt sie, "das ist kurzsichtig. Während der Reha geht es ja gerade darum, die Schul- und später die Ausbildungsfähigkeit zu stabilisieren." Zudem werde in den Einrichtungen Schulunterricht angeboten. Die Expertin der Rentenversicherung sieht eine weitere Ursache des Antragsrückgangs darin, dass viele Kinder nicht mehr von einem Kinderarzt betreut werden, sondern vom Hausarzt der Familie. "Aber die kennen sich mit der Kinder-Reha nicht so gut aus."

Andreas Petri, Chef des Hausärzteverbandes von Sachsen-Anhalt, weist das strikt von sich. "Kinder-Reha ist für die Hausärzte Sachsen-Anhalts kein Problem", sagt er. "Aber wir behandeln sehr wenig chronisch kranke Kinder." Diese würden in überwiegender Mehrzahl von Kinderärzten betreut.

Die Kinderärzte stehen indes vor einem Rätsel. "An unserem Verschreibungsverhalten hat sich in den letzten Jahren nichts geändert", sagt Holger Handel, Vorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte des Landes. Aber die Ärzte seien inzwischen sensibilisiert und wollten Kinder, die einer Therapie bedürften, nochmals gezielt ansprechen. Allerdings spielt er den Ball auch an die Rentenversicherung zurück. "Es ist ja nicht so, dass jeder Reha-Antrag, der bei der Rentenversicherung gestellt wird, ein Selbstläufer ist." Nicht selten komme ein Schreiben, in dem gefragt werde, ob bereits alle ambulanten Behandlungs-Möglichkeiten ausgeschöpft seien. Und nicht alle Eltern gingen bei einer Ablehnung in Widerspruch. Laut Ueberschär liegt die Bewilligungsrate bei 75 Prozent.

Handel verweist aber doch noch auf einen Umstand, der zumindest teilweise eine Erklärung für den Rückgang der Kinder-Reha-Kuren liefern könnte: "Die meisten Anträge werden heute als Mutter-Kind-Kuren gestellt", sagt der Arzt. Er habe den Eindruck, dass die eher angenommen würden, weil die Ablehnungsquote geringer sei.

Bei Mutter- / Vater-Kind-Kuren steht die Behandlung des betreffenden Elternteils im Vordergrund. Interessanterweise hat die AOK beobachtet, dass die Behandlungsbedürftigkeit der mitreisenden Kinder zunimmt. Die häufigsten Erkrankungsbilder auch hier: Adipositas, Asthma, Neurodermitis und Verhaltensauffälligkeiten. Ein Umstand, der das Sozialministerium aufhorchen lässt. "Wenn es um Kindergesundheit geht, dann sollten Rehabilitationsmaßnahmen für das Kind im Vordergrund stehen und keine Mutter- / Vater-Kind-Kur", sagt Sprecher Holger Paech.

Einen Hauptgrund für die Probleme von Einrichtungen wie Bad Kösen sieht er aber doch in der demografischen Entwicklung. "Davor kann man die Augen nicht verschließen." Es werde in den nächsten Jahren einen weiteren deutlichen Rückgang bei den Kindern und Jugendlichen Sachsen-Anhalts geben. Wenn Reha-Kliniken wirtschaftlich bleiben wollten, bräuchten sie gegebenenfalls auch ergänzende Angebote.

Das versucht die Klinik "Am Nicolausholz". Ende 2010 wurde 25 Mitarbeitern wegen der schwachen Belegung gekündigt. Das sei schon bitter gewesen, sagt Kerstin Budde-Große. Jetzt würden, um die Auslastung zu erhöhen, neue Behandlungsbereiche erschlossen. Es werde versucht neue familienfreundliche Angebote zu machen - so könnten Eltern und Kinder zwar getrennt, aber in zwei benachbarten Kliniken, zur gleichen Zeit ihre Reha antreten. In vielen Bereichen würden die drei Kliniken Ressourcen gemeinsam nutzen. Die kaufmännische Direktorin verweist zudem auf ein Jugendhaus mit 35 Betten, in dem an Diabetes erkrankte Kinder und Jugendliche längere Zeit leben, deren medizinische Betreuung zu Hause nicht gewährleistet sei. Das sei ausgelastet.

Größeres Einzugsgebiet

Auch die Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland versucht, dem Haus zu helfen. "Eigentlich", so Ina Ueberschär, "gelte das Prinzip, dass Kinder in Einrichtungen des Landes rehabilitiert werden, aus dem sie kommen." Bad Kösen könne aber auch Kinder aus Sachsen und Thüringen aufnehmen. Die Bad Kösener fühlen sich indes stiefmütterlich behandelt. Nach Auskunft des Sozialministeriums gibt es dafür aber keinen Beleg.

So groß die Sorgen "Am Nicolausholz" auch sind - die Bewohner auf Zeit merken nichts davon. Sie genießen die Ruhe. Und die Aufmerksamkeit, die ihnen hier entgegengebracht wird.