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Industriegeschichte Industriegeschichte: Der größte Frauenbetrieb

Von CHRISTINE KRÜGER 22.07.2010, 19:30

BITTERFELD-WOLFEN/MZ. - Das erste Haus am Platze ist hier kein Grand-Hotel. Es ist ein unspektakuläres Industriegebäude aus mattgelben Klinkern, wie sie typisch sind für Wolfen. Die Begießerei I der Filmfabrik ist 1909 / 10 das erste Haus des in Mitteldeutschland entstehenden neuen Werkes der Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation (Agfa), die schon in Bitterfeld die Farbenfabrik betreibt.

Heute befindet sich hier das Industrie- und Filmmuseum (Ifm) Wolfen, das einen wahren Schatz hütet - die Geschichte der industriellen Entwicklung der Region, die von Generationen geschrieben worden ist. Jetzt rückt all das wieder deutlich ins Gedächtnis der Menschen, die in "der Film", wie sie hier sagen, ihr halbes Leben verbracht haben, die mit ihr gelebt haben: Fast auf den Tag genau vor 100 Jahren beginnen die Anlagen zu arbeiten, mit denen in Wolfen der Schwarz-Weiß-Kinofilm produziert wird. Nur ein Jahr zuvor ist der Grundstein für das Werk auf dem Feld weit draußen vor einem kleinen Dorf gelegt worden.

Und so rasant wie der Bau der Agfa-Fabrik über die Bühne geht, so rasant geht die Entwicklung weiter. Das Werk wird die größte Filmfabrik Europas und hinter Kodak (USA) die zweitgrößte der Welt. Mit dem ersten praktikablen Farbfilm, den das Unternehmen 1936 auf den Markt bringt, geht die Wolfener Filmfabrik in die Geschichte ein. Unzählige neue Produkte nehmen durch die Filmherstellung hier ihren Anfang. Bedeutsame wissenschaftliche Leistungen künden von der Innovationskraft. Doch gibt es in der Geschichte der Filmfabrik, die ab 1925 zur IG Farben gehört und später deren Leitbetrieb ist, ein bedrückendes, dunkles Kapitel. Neben exzellenten wissenschaftlich-technischen Erfindungen und Entwicklungen stehen Millionen Menschen, die unter dem Emblem der IG Farben in Vernichtungslagern getötet werden. Und auch direkt in Wolfen wird für den Krieg produziert - der Luftbildfilm zur Aufklärung, die Gelantine-Folie, die das Beschlagen der Gasmasken-Gläser verhindert, die Kunstfaser, aus der Uniformen und Fallschirme werden.

"Die Film" ist von Anfang an einer der größten Arbeitgeber der Region um Bitterfeld und Wolfen und sie ist Auslöser dafür, dass sich aus einem unbedeutenden Dorf eine bedeutende Stadt entwickelt. 500 Mitarbeiter sind 1910 beschäftigt, 16 000 passieren zu DDR-Zeiten täglich die Werkstore der Orwo-Filmfabrik, wie das Unternehmen ab 1964 offiziell heißt. Bis zur Schließung 1994 ist es der größte Frauenbetrieb des kleinen Landes.

",Die Film' war die Stadt", bringt es Horst Kühn, Vorsitzender des Fördervereins Ifm, auf den Punkt. Denn mit der Fabrik wächst das Dorf Wolfen. Die Agfa lässt Wohnungen bauen und schafft soziale Einrichtungen, ein Krankenhaus sogar.

Ganze Werkssiedlungen entstehen, das Dorf wächst und wächst. Das Werk braucht Arbeiter. "Wohnungsnot ist in Wolfen immer. Bis 1998", sagt Manfred Gill, Archivar der Filmfabrik. Über 5 000 Orwo-Werker sind auf der Suche. Doch nicht nur sie. Es müssen Familien untergebracht werden, deren Dörfer für die Braunkohle weggebaggert werden, Offiziere, die hier stationiert sind, Leute, die sich den Beitrag für die Arbeiterwohnungsgenossenschaft nicht leisten können, Beschäftigte des Bitterfelder Chemie- und des Braunkohlekombinates.

1960 steht fest: Es wird neu gebaut. Groß, modern, funktional - ein ganzes Wohngebiet. Wolfen-Nord wird es heißen. Und das Wohnen in Wolfen-Nord ist für alle erstrebenswert. Neubau - das ist Fernheizung, das ist "warmes Wasser aus der Wand", das ist für diese Zeit und dieses Land eine gute Wohnqualität. Die Infrastruktur lässt keinen Wunsch offen - Schulen, Kindergärten, Kneipen, Läden, Post, Sparkasse, Arzt, Apotheke, Spielplätze - alles ist da. "Die Wohnungsnot hat solche Blüten getrieben", blickt Gill zurück, "dass es in der Filmfabrik eine Wohnungskommission gab." Und eins ist sicher: Deren Mitglieder stehen oft genug Kopf. Das ist erst vorbei, als die Grenzen sich öffnen. 20 000 Menschen haben seitdem allein dem Plattenbaugebiet Wolfen-Nord den Rücken gekehrt - die meisten aus dem selben Grund, aus dem sie gekommen sind: Sie ziehen der Arbeit nach. 6 000 der einst so heiß begehrten Wohnungen sind inzwischen abgerissen.

1994 endet die Filmproduktion in Wolfen. Das Werk kann schon lange nicht mehr dem internationalen Wettbewerb standhalten. Nicht nur das: Das digitale Zeitalter hat den Film verdrängt. Doch: "The Show Must Go On" - und sie geht weiter. Viele neue, äußerst innovative Firmen haben sich in den vergangenen Jahren auf dem Gelände angesiedelt, in Sichtweite breitet sich Solar Valley aus. Und: Neben der Erinnerung an die Filmfabrik bleiben mit Filmotec sowie Orwo Net zwei Unternehmen, die die Filmtradition in Wolfen fortführen.