Holocaust-Tattoo Holocaust-Tattoo: Junge Israelis wollen durch Tätowierungen an Schicksale erinnern

Als Yosef Diamant 17 Jahre alt war, stand er vor einem Massengrab in Auschwitz, unter ihm die nackten Toten, hinter ihm das Erschießungskommando. Seine Mutter wurde schon bei der Ankunft im Lager vergast, seine Schwestern und der Bruder auch. Den Vater hatten SS-Leute im Ghetto zu Tode geprügelt. Yosef Diamant war der Letzte und erwartete den Schuss, der die Familie auslöschen würde.
Als seine Enkelin Eli Sagir 17 Jahre alt war, fuhr sie mit ihrer Schulklasse nach Auschwitz. Ihr Opa hatte ihr vor der Abreise eine Karte des Konzentrationslagers mitgegeben, einen Wegweiser, der sie zu dem Bett führen sollte, in dem er drei Jahre lang geschlafen hat. Eli fand das Holzbett. Sie betrachtete es lange. Es war hart für sie. Die Geschichten, die Yosef Diamant ihr so oft erzählt hatte, stiegen wieder hoch, das Tätowieren der Häftlingsnummern, das Massengrab, das Steineschleppen. Wie er nur überleben konnte, weil keiner der Schützen ihn getroffen hatte und er trotzdem in das Loch vor ihm fiel. Wie er sich tot stellte, während sich die Leichen über ihm stapelten.
Ein paar Tage später ging Eli in das Tattoo-Studio Bizzart im Zentrum von Jerusalem und ließ sich die Auschwitz-Nummer ihres Großvaters auf den Arm tätowieren. 157622. Er musste seine Nummer nicht ständig sehen, sie lag schräg auf seinem linken Außenarm. Aber Eli wollte die Nummer immer sehen können. Sie wurde in die Innenseite ihres linken Arms gestochen, mit einem kleinen Diamanten daneben.
Eigentlich sind Tattoos nach jüdischem Glauben verboten - der Mensch sei das Ebenbild Gottes, sein Körper dürfe nicht entweiht werden mit „geätzter Schrift“. Daran halten sich natürlich nicht alle. In Israel gibt es wie in jedem Land Tattoo-Studios und eine lebhafte Szene. Aber das alte religiöse Gesetz macht Tattoos etwas seltener, etwas außergewöhnlicher als in Deutschland - und eine Nummer auf dem Unterarm junger Mädchen wie Eli Sagir erst recht.
Sie ist nicht die Einzige, die sich ein Holocaust-Tattoo stechen lassen hat; ein Dutzend ungefähr gibt es in Israel. Die Träger eint, dass sie Mitte 20 sind und die Erinnerungen an ihre Großeltern nicht verlieren wollen; durch die Tätowierung können sie das auch nicht mehr. Der Film „Numbered“ von Dana Doron und Uriel Sinai, eine wunderbar ruhige Meditation über die Schicksale hinter den KZ-Nummern, hat das Thema im letzten Herbst in die Öffentlichkeit gebracht. An einer Universität konnten sich kürzlich die Studenten KZ-Nummern auf ihre Arme schreiben, temporär, mit Henna-Farbe. „Wir sind die dritte Generation“, hieß die Initiative. „Den Enkeln der Überlebenden läuft die Zeit davon“, sagt Carol Kidron, eine Anthropologin an der Universität von Haifa. Wenn sie jetzt nicht ihre Erinnerungen und das Gedenken an die Großeltern kultivieren, wird deren Schicksal verblassen.
Das Talent zum kleinen Glück
Eli Sagir ist inzwischen 21 Jahre alt, schwarze Locken liegen auf ihren Schultern, eine Brille rahmt ihre Augen ein. Sie sitzt auf der Couch im elterlichen Wohnzimmer in Har Homa, einem Vorort von Jerusalem. Draußen peitscht der Wind Hagelkörner quer über die Straße, die Rollläden sind geschlossen, und Suppenduft kämpft mit Zigarettenrauch um die Vorherrschaft in dem stickigen Raum. Der Fernseher gegenüber der Couch schickt blaue Blitze in das Zimmer, wenn sich die Szenerie auf dem Bildschirm ändert. Aber Eli Sagir schaut nicht ein einziges Mal hinüber, als sie von ihrem Opa und dem Tattoo erzählt.
Sie war 14, als Yosef Diamant ins Krankenhaus kam. Krebs, die Ärzte behielten ihn lange da. Es war knapp damals. Eli Sagir begriff, dass ihre Großeltern zwar immer da gewesen waren, aber nicht ewig da sein würden. Sie wollte von nun an mehr Zeit mit ihnen verbringen, fuhr jedes Mal mit, wenn sie am Tiberias-See im Norden des Landes Urlaub machten. Das Geld für den Urlaub hatten die Großeltern von Entschädigungszahlungen aus Deutschland zurückgelegt. Oft übernachtete Eli Sagir auch bei ihnen zu Hause in Beit Shemesh und saß mit ihrem Opa im Garten. Er habe geraucht und die Blumen angeschaut, sagt sie. Er sei zufrieden gewesen.
„Es waren die ganz kleinen Sachen, die den Tag zu einem guten Tag für ihn machten,“ sagt die Enkelin. Diese Weltsicht wolle sie nicht vergessen, deswegen trägt sie das Tattoo. Es ist ihre Erinnerung an den Großvater, an dessen Talent zum kleinen Glück nach der großen Marter. „Ich bin ein reicher Mann“, hat der Großvater immer gesagt. „Nicht reich an Geld, aber schaut mein Leben an: reich an allem anderen.“ Eli Sagir sagt: „Ich könnte ein Bild von ihm bei mir tragen, ein bestimmtes Armband vielleicht, aber diese Dinge kann man alle ablegen. Dieses Tattoo bin ich.“ Sie wägt ihre Worte ab, sie will, dass die Leute verstehen, warum sie sich diese Nummer stechen lassen hat. Manchmal findet sie das treffende Wort nicht. Dann murmelt sie zuerst das hebräische Wort und fragt schließlich ihre Mutter Jona Diamant nach der Übersetzung. Auf einem großen Bild an der Wand lächelt der Opa in die Kamera, er tanzt darauf mit seiner Frau. Die Großeltern waren ein schönes Paar. Jona Diamant erzählt, dass ihr Vater immerzu tanzte. Zu Hause, auf Hochzeiten, auf den Trance-Partys seiner Enkel. Auch sie trägt seine Nummer auf dem Unterarm - und wie bei ihrer Tochter vermischen sich bei diesem Anblick ihre und seine Erinnerungen. Bei der Sache mit den Holzclogs zum Beispiel.
Die waren in Mode in den 70er Jahren in Israel, und Jona Diamant wollte unbedingt welche, wie ihre Freundinnen und alle anderen auch. Der Vater verbot es, ohne Begründung, und die damals 15-Jährige tobte. Erst später sprachen sie sich aus, eine Nacht lang saßen sie in der Küche, und Yosef Diamant erzählte ihr die ganze Geschichte. Wie er bis zur völligen Erschöpfung Steine schleppte im Lager und sich für jede Arbeit meldete, die es gab, weil Arbeit Überleben hieß. Zur Häftlingskleidung gehörten die Holzschuhe mit ihrem ewigen Klappern. Er wollte es danach nie wieder hören.
Jona Diamant sagt, es sei ihr gut ergangen in ihrer Jugend, besser als ihren Geschwistern wohl. Sie und ihr Vater seien sich sehr ähnlich gewesen. Dass sie sich seine KZ-Nummer stechen lassen hat, muss nicht - wie viele israelische Psychologen vermuten - mit einer posttraumatischen Störung zusammenhängen, unter der, in leichterer Form, auch die Nachfahren von Holocaust-Überlebenden leiden. „Für sie kann es ein positives Zeichen sein: Widerstand, Überleben und Verantwortung für die Zukunft“, sagt Carol Kidron, die Anthropologin, die selbst die Tochter eines Holocaust-Überlebenden ist. Der tätowierte Arm der eigenen Eltern und Großeltern sei für die Nachfahren nicht tabuisiert wie in anderen Teilen der Gesellschaft. Der Holocaust saß gewissermaßen immer mit am Esstisch.
Das war anders, als die Holocaust-Überlebenden nach dem Krieg eintrafen. Damals war hier nur Stille. Die, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg eingetroffen waren, schauten herab auf sie, wollten ihre Geschichten nicht hören. Die Neuankömmlinge schwiegen aus Scham. Manche brannten sich die KZ-Nummern mit Zigaretten aus ihren Armen.
Yosef Diamant war nicht so. Vielleicht, weil er seine Nummer nicht sehen musste, wenn er nicht wollte, vielleicht, weil Menschen unterschiedliche Wege gehen, um etwas zu verarbeiten. Diamant traf 1948 in Israel ein, kämpfte im Unabhängigkeitskrieg und verkaufte danach auf den Straßen Eis im Block, Kühlschränke waren damals nicht sehr weit verbreitet. Bald wurde er Polsterer und setzte sich 1955 an einen Schreibtisch, um Bögen des Holocaust-Archivs von Yad Vashem auszufüllen: Moshe Diamant, verheiratet, Schneider, 1941 gestorben - sein Vater. Tova Diamant, verheiratet, Hausfrau, 1942 gestorben - seine Mutter. Reuven Diamant, 1938 geboren, 1942 gestorben - sein Bruder. Seine Schwester Liba, seine Schwester Khana. Yosef Diamant dokumentierte die Toten seiner Familie, die eines ganzen Dorfes Mischkow in Polen. 72 Bögen füllte er damals aus. In der Online-Datenbank kann man auf den Faksimiles seine große ausschweifende Schrift erkennen.
Ein provokantes Symbol
Geredet wurde über den Holocaust in Israel erst, als Adolf Eichmann der Prozess gemacht wurde. „Es geht nicht um Bestrafung, es geht darum, dass dieser Prozess überhaupt stattfindet - und dass er in Jerusalem stattfindet“, sagte der Staatsgründer David Ben-Gurion damals. Historiker wie Tom Segev meinen, dass mit dem Eichmann-Prozess der Holocaust in die Mitte der israelischen Gesellschaft und Politik rückte, er machte ihn zu einem Teil der zionistischen Idee und der kollektiven Identität. Er sollte, nach dem Willen der politischen Führung, aber auch die jüdischen Neuankömmlinge aus den arabischen Staaten erziehen. Mit Erfolg: Umfragen zeigen heute, dass sich die überwiegende Mehrheit der Israelis als Holocaust-Überlebende begreift, auch, wenn kein Familienmitglied in den Lagern war.
„Inzwischen sind wir fünf, die ein Tattoo haben“, sagt Eli Sagir. Sie, ihre Mutter, der Onkel, ihr Bruder, ihr Cousin. „Der Erste war mein Cousin; er ging zu meinem Großvater und fragte um Erlaubnis. Mein Großvater fragte ihn, warum er so etwas tun würde? Ob er ihm die schlimme Zeit des Lagers immer wieder in Erinnerung bringen wolle? Da sagte mein Cousin: ,Opa, wenn ich einmal Kinder habe, werden sie mich fragen, was das für eine Nummer ist. Und ich werde ihnen deine Geschichte erzählen.’“
Für die Enkel ist das Tattoo eine private, intime Erinnerung an ihre Großeltern, für den Rest des Landes ein provokantes, öffentliches Symbol. Es ist dieser Widerspruch, der in Israel eine Debatte gestartet hat, nachdem bekannt wurde, dass sich Eli Sagir und ihre Altersgenossen tätowieren lassen haben.
„Ist denn nicht ein atmender, lebender Jude das beste Denkmal für die Opfer des Holocaust?“, fragt eine amerikanische reform-jüdische Kommentatorin im Netz. Eine andere hält die Tattoos gar für einen narzisstischen Versuch, Aufmerksamkeit zu bekommen. „Was maßt du dir an, dich an die Stelle deines Großvaters zu begeben?“ wird Eli Sagir oft gefragt. Sie streitet sich dann nicht, sondern sagt, dass diese spezielle Zahlenkombination zu ihren Opa und damit auch irgendwie zu ihr gehört.
Als der Großvater das Tattoo sah, damals vor vier Jahren, griff er nach dem Arm seiner Enkelin, beugte sich herab und küsste die sechs Nummern mit dem Diamanten. Er weinte dabei. Sie wusste, dass es gut war.