Harzkreis Harzkreis: Bundeswehr-Apotheke im Stollen
BLANKENBURG/MZ. - Hinter dem offen stehenden Stahltor, sechs mal sechs Meter groß und 100 Tonnen schwer, ragen alte Bahngleise tief in den Stollen hinein. Sie werden schon seit Jahren nicht mehr genutzt. Leuchtstoffröhre an Leuchtstoffröhre scheint es den Tunnel entlang. Kaum etwas deutet darauf hin, was sich ein paar Gänge weiter abspielt. Geschäftiges Treiben. Männer und Frauen in Uniform sortieren Medikamente in hunderte Meter lange Regale ein, schieben Wagen voller Pakete durch den Stollen oder kontrollieren Lieferungen für den Versand. "Von hier aus gehen jeden Monat tausende Kartons mit Arzneimitteln per Lkw raus an die Truppe", sagt Oberstabsapotheker Marco Haupt.
Denn hier, im Regenstein, einem Felsmassiv bei Blankenburg am Nordrand des Harzes, betreibt die Bundeswehr im "Versorgungs- und Instandsetzungszentrum Sanitätsmaterial" eine gigantische unterirdische Apotheke. Etwa 3 000 verschiedene Arzneimittel liegen in großen Mengen in dem verwinkelten Stollensystem. Den meisten Platz aber nehmen Krankenhausausstattungen und Medizingeräte ein, die hier repariert und gelagert werden - darunter Defibrillatoren, Röntgen- und Beatmungsgeräte, Feldbetten und mehr als 100 000 Wolldecken. "Insgesamt lagert hier Medizin und Technik im Wert von etwa 25 Millionen Euro", so Haupt, der stellvertretender Leiter des Zentrums ist. Neben der Versorgung der Soldaten im Inland werden sie in Einzelfällen bei Auslandseinsätzen genutzt - unter anderem in Afghanistan. Auch nach Haiti ging nach dem verheerenden Erdbeben im Januar von hier aus eine Hilfslieferung.
Mit dem Fahrrad durch die Gänge
"Wir haben alles, was ein Apothekengroßhandel auch hat - von der Kopfschmerztablette bis zum Katheter", sagt Haupt beim Gang durch die medizinische Vorratskammer und deutet dann auf einen der vielen Türme aus zig identischen, ordentlich übereinander gestapelten Kartons. Drogenschnelltests. "Das ist der Halbjahresbedarf für alle Kreiswehrersatzämter in Deutschland." Schließlich wird jeder angehende Soldat dort vorab überprüft, erklärt der 36-Jährige, während in dem Stollen eine Durchsage ertönt: Ein Mitarbeiter wird ausgerufen. Gibt es in dem sich über acht Kilometer erstreckenden Stollensystem, in dem das Fahrrad beliebtes Fortbewegungsmittel ist, doch nicht überall Telefone. Vorbei geht es an zwei Kühlcontainern, in denen wärmeempfindliche Arzneimittel und Impfstoffe bei zwei bis acht Grad Celsius lagern. Tatsächlich ist es überraschend warm in der Tunnelanlage. "Sie wird beheizt und die Temperatur konstant bei 18 Grad gehalten."
Neben Schutzhelmen hängen an den Wänden sogenannte Sauerstoffselbstretter - falls es einmal brennen und der Strom ausfallen sollte. "Sie reichen für 30 Minuten", sagt Marco Haupt. Sogar eine eigene Feuerwehr wird in der Untertageanlage aus Sicherheitsgründen beschäftigt. Damit das Arbeiten in dem Fels überhaupt möglich ist, werden stündlich rund 40 000 Kubikmeter Luft in die Gänge gepumpt. Das ausgeklügelte Lüftungssystem stammt wie auch die Schaltzentrale und die massiven Stahltore aus DDR-Zeiten, als die Nationale Volksarmee (NVA) hier ein geheimes Lager unterhielt.
Entstanden ist die Tunnelanlage jedoch in den letzten Zügen des Zweiten Weltkrieges: Die Nationalsozialisten ließen Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen die ersten Stollen ebenerdig in den Sandstein treiben. Unterirdisch und damit bombensicher sollten hier vermutlich Teile für die "Wunderwaffe" V 2 und für U-Boote hergestellt werden, sagt Ingrid Glogowski, die im Blankenburger Kulturamt zuständig für das Stadtarchiv ist. "Dazu ist es jedoch nie gekommen."
Gerüchte um geheimes Lager
Rund 30 Jahre später, Mitte der 70er Jahre, entdeckte die NVA den abgelegenen Standort für sich: Das Stollensystem wurde auf seine heutige Länge erweitert und atomschlagsicher ausgebaut. Das eingezäunte Gelände unterlag fortan strengster Geheimhaltung. "Die Anlage war besser geschützt als die innerdeutsche Grenze", sagt Haupt. Und Ingrid Glogowski berichtet: "Damit begann in der Bevölkerung die Gerüchteküche zu köcheln." Von dem Stollensystem aus reiche eine Straße bis nach Halberstadt, erzählte man sich. Womöglich sei eine Flughalle unterirdisch eingerichtet worden. Auch das Gerücht, dass in der Anlage Mittelstreckenraketen gelagert würden, hielt sich.
Tatsächlich soll einmal ein Fahrzeug mit Luftabwehrraketen in den Stollen gefahren, aber an einer der ersten Kurven nicht weitergekommen sein. Vor allem wurde das "Komplexlager 2" aber als Depot für Munition und vieles andere genutzt. "Hier wurde alles Mögliche gelagert - von Pillen bis zu Panzermotoren", sagt Oberstabsapotheker Marco Haupt und öffnet im einstigen Personenbereich die Tür zum original erhaltenen Kommandantenbüro aus NVA-Zeiten. Dort hängen noch vergilbte Dienstpläne an den Wänden.
Was damals streng geheim war, darf heute mitunter besichtigt werden: Hin und wieder hat die Bundeswehr, die das Gelände 1992 übernommen hat, Tage der offenen Tür veranstaltet. Mit tausenden Besuchern, wie Marco Haupt erzählt. "Das Interesse ist enorm." Den nächsten Tag der offenen Tür soll es im kommenden Jahr geben.