Harz Harz: Mit den Händen lesen
Wernigerode/dpa. - Behutsam gleiten die Fingerspitzen von Irene Lämmle über die Buchseiten. Ihre Augen sind geschlossen und dennoch liest sie fließend vor. Die 44-Jährige ist blind und auf den vor ihr liegenden Buchseiten befinden sich kleine tastbare Punkte - Blindenschrift, auch Brailleschrift genannt. Sie arbeitet in der kleinsten und einzigen evangelischen Blindenschriftdruckerei im deutschsprachigen Raum in der Harzstadt Wernigerode. Das Buch, aus dem sie liest, wurde in der 1927 gegründeten Druckerei des Evangelischen Blinden- und Sehbehindertendienstes in Deutschland gefertigt. In der angegliederten Bibliothek können mehr als 1200 Bücher in Blindenschrift ausgeliehen werden.
Sechs Mitarbeiter stehen in der Einrichtung in Lohn und Brot. Bibeln, Gesangsbücher und Zeitschriften - die Auftragsbücher der kleinen Blindenschriftdruckerei sind voll und der Bedarf ist groß. In Deutschland leben 155 000 blinde und 500 000 sehbehinderte Menschen. «Brailleschrift ist eine Kultur», sagt Leiter Antonio Michienzi, der selbst nur noch einen Sehrest von fünf Prozent hat. «Ohne sie wären wir arme Bettler.» Für ihn zählt bei der Herstellung des speziellen Lesestoffs Qualität statt Quantität. «Wir drucken rund 10 bis 15 Bücher pro Jahr», sagt der 40-Jährige. «Dazu kommen noch Zeitschriften und Auftragsarbeiten.» In den Büchern und Zeitschriften wird in Deutschland, Österreich, der Schweiz und sogar in Russland mit den Händen gelesen.
Der Weg vom «normalen» Buch in Schwarzschrift bis zur Ausgabe in Punktschrift ist mühselig. Michienzi scannt zunächst Seite für Seite ein. Mit einer speziellen und teuren Braillezeile an einer Tastatur liest er den Text und kann dann Befehle in den Rechner eingeben. Sind alle Buchstaben, Satz- und Sonderzeichen in Brailleschrift umgewandelt, wird der Text auf einer Diskette gespeichert und ausgedruckt. «Ich bin für das Korrekturlesen verantwortlich», sagt Lämmle. Zusammen mit einer sehenden Kollegin werden Originaltext und Punktschrift verglichen. «Wir lesen uns gegenseitig laut vor und kontrollieren so den Text», erklärt Lämmle. «Außerdem bin ich die Testperson, die den Text auf die korrekte Schreibweise überprüft.»
Für den eigentlichen Druck fertigt Michienzi anschließend Musterplatten an. Dabei presst eine laut ratternde Maschine den korrigierten Text in Brailleschrift auf Zink- oder Aluminiumplatten, die später als Druckvorlage dienen. Eine Zeile in Blindenschrift ist 36 Zeichen lang. Neben Deutschland gibt es auch in Frankreich und England eine Kurzversion der Brailleschrift. «Das ist wie Steno», erklärt Michienzi. «Bücher werden nicht so umfangreich und das Lesen geht fließender.» Die Bibel in Brailleschrift umfasst in der Kurzschrift dennoch 32 Bände.
Im Nebenraum verrichtet Frank Bresch seinen Dienst. Der 29-Jährige bedient eine Tiegelpresse, in der er die Musterplatten und Papierbögen einlegt. Mittels Druck erscheinen die kleinen Punkte dann auf dem Papier. Die meisten Schriftstücke werden vor Ort von Hand genäht und gebunden «Wichtig ist, dass zwischen den einzelnen Seiten kleine Falze eingearbeitet werden. Sonst drücken sich die Punkte platt», erklärt Bresch.
Die angegliederte Bibliothek ist besonders bei den Gästen der angrenzenden Begegnungsstätte beliebt. Einst waren die Druckerei und das «Helmut-Kreutz-Haus» eine Einheit, bis Mitarbeiter und Maschinen 1996 in den Neubau umzogen. Nun steht das rote Backsteingebäude am Fuße des Wernigeröder Schlosses blinden und sehbehinderten Menschen für Aufenthalte zur Verfügung. «Die Bücher aus der Druckerei- Bibliothek stehen bei unseren Gästen hoch im Kurs», sagt Leiterin Gisela Hönicke. «Sie sind ein wichtiger Teil der Freizeitgestaltung.»