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Grünes Band Grünes Band: 100 Tage Grenzerfahrung am einstigen Todesstreifen

Von Julius Lukas 28.10.2019, 11:00
Bei Hötensleben (Kreis Börde) passiert Mario Goldstein mit seiner Hündin Sunny einen der 434 Wachtürme, die entlang der Grenze standen. Heute sind nur noch wenige davon erhalten.  
Bei Hötensleben (Kreis Börde) passiert Mario Goldstein mit seiner Hündin Sunny einen der 434 Wachtürme, die entlang der Grenze standen. Heute sind nur noch wenige davon erhalten.   Eric Fresia

Hötensleben - Der Tiefpunkt kam für Mario Goldstein am 14. Tag seiner Wanderung entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Da war er bereits viele Kilometer auf den löchrigen Betonplatten des Kolonnenwegs gegangen. Er hatte Wachtürme und Stacheldraht passiert. Und auf Mahntafeln von Menschen gelesen, die beim Versuch, den schmalen Streifen zu überwinden, erschossen wurden. „Dann, am 14. Tag, ging plötzlich die Schublade mit den Erinnerungen auf“, erzählt Goldstein.

Er habe dagesessen und bitterlich geweint. „Die Schmerzen von früher kamen wieder hoch, Gefühle, die ich nicht zu Hause lassen konnte.“ Goldstein, der im sächsischen Vogtland nahe der Grenze aufwuchs, hatte selbst zwei Fluchtversuche unternommen. Den ersten schon mit 14 Jahren, den zweiten mit 18. Beide scheiterten. Und beide brachten ihn ins Gefängnis.

Dort erlebte er Einzelhaft, Selbstmordgedanken und Weihnachten hinter Gittern. „Lange habe ich darüber nicht nachgedacht“, sagt der 50-Jährige. Aber irgendwann müsse sich jeder Mensch seinen verdrängten Erinnerungen stellen. „Dafür braucht man Ruhe und Zeit - und die hatte ich auf der Wanderung.“

Exakt 100 Tage ist Mario Goldstein den einstigen Todesstreifen entlang gelaufen. Mittlerweile wird der als grünes Band bezeichnet, das sich von der tschechischen Grenze bis zur Ostsee zieht. Viele Debatten gab es in den vergangenen Jahren um den Status des 1.393 Kilometer langen Streifens. Zuletzt wäre Sachsen-Anhalts Koalition fast daran zerbrochen. Vergangene Woche ernannte der Landtag den Sachsen-Anhaltischen Teil dann jedoch zum besonders geschützten Naturmonument. In Thüringen war das bereits 2018 geschehen.

Auch Mario Goldsteins Grenzgang war ein Baustein auf dem Weg zum Naturmonument. 2014 hatte ihn der Thüringer Ableger des Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) gefragt, ob er den Thüringer Teil - mit 763 Kilometern der längste Abschnitt des Grünen Bandes - für eine Kam-pagne ablaufen wolle. Damit sollte dafür geworben werden, die einstige Grenze, die zum Lebensraum zahlreicher Tiere geworden war, besser zu schützen. Goldstein war für dieses Vorhaben genau der Richtige, denn mit Expeditionen kennt er sich aus.

Früher Freiheitsdrang

Der 50-Jährige bezeichnet sich selbst als Abenteurer. „Seit frühester Kindheit verspüre ich einen großen Freiheitsdrang“, sagt Goldstein. Die Fluchtversuche sind ein Beispiel dafür. Aber auch später suchte er immer wieder das Weite. Nach dem Mauerfall wurde er erst Geschäftsmann. „Ich hatte zeitweise fünf Firmen gleichzeitig.“ Doch irgendwann merkt Goldstein, wie sein Beruf ihn einschnürt. Er will wieder frei sein, verkauft alles und beginnt zu reisen.

Mit einem Katamaran überquert er Ozeane - von Südostasien bis nach Brasilien und in die Karibik. Er baut einen Wasserwerfer um und fährt bis zum Dalai Lama nach Indien - und wird von dem sogar empfangen. Mehrere Monate durchquert er dann Kanada und Alaska. „Es gab Zeiten, da begegnete mir tagelang kein Mensch“, erzählt Goldstein. Geld verdiente er mit Vorträgen und Multimedia-Shows über seine Abenteuer - das macht er heute noch so.

Die Freiheit war groß. „Doch ich merkte auch, dass ich neben dieser äußeren, auch eine innere Freiheit brauchte - und die habe ich in der Ferne nicht gefunden.“ Er kehrt zurück nach Deutschland, kurz danach kommt die Anfrage des BUND. „Da wurde mir erst bewusst, dass ich 30 Jahren nicht mehr an der Grenze war.“

Fast 300 Seiten umfasst das Buch „Abenteuer Grünes Band“ (Knesebeck Verlag, 35 Euro), das Mario Goldstein über seine Wanderung entlang der einstigen innerdeutschen Grenze geschrieben hat. Darin erzählt er von seinem Weg durch einen einzigartigen Streifen Natur, der gespickt ist von historischen Details und faszinierenden Begegnungen. Über 300 Fotos machen Lust, das Grüne Band selbst zu erobern.

Schon zu Beginn des Projekts nimmt Goldstein sich vor, das komplette Band zu laufen. Im Sommer 2016 startet er mit dem Thüringer Teil. 2018 folgt der Abschnitt von Sachsen-Anhalt bis an die Ostsee. Zuletzt läuft er noch die 37 Kilometer auf sächsischem Boden - an nur einem Tag.

Es sind 100 Tage Grenzerfahrung und 1.400 beschwerliche Kilometer - das sagt Mario Goldstein ganz offen. „Bei meinen Abenteuern zuvor war ich immer mit Fahrzeugen unterwegs, nie zu Fuß.“ Nun belasten ihn vom ersten Kilometer an 22 Kilogramm Gepäck im Rucksack. Er reagiert - und nimmt statt drei Pfannen nur noch eine mit. Und seine Hündin Sunny, die ihn die ganze Reise begleitet, muss ihr Futter nach wenigen Tagen selbst tragen - immerhin zwei Kilogramm spart er ein.

Doch die Einzigartigkeit der Landschaft, die er durchläuft, entschädigt ihn immer wieder. Das Grüne Band ist zwischen 50 und 200 Meter breit. Für fast alle Menschen war es 40 Jahre lang Sperrgebiet, für Pflanzen und Tiere freilich nicht. Deswegen hat sich eine seltene Vielfalt auf dem Streifen entwickelt. 150 Lebensräume und 1 200 Arten wurden bereits gezählt. Kleinstlebewesen nutzen das Biotop ebenso wie Luchse und Wölfe.

Einsamkeit und Begegnung

Das Buch, das Goldstein über sein Abenteuer entlang der ehemaligen Trennlinie geschrieben hat (siehe Infokasten), wechselt ständig zwischen Einsamkeit und Begegnung. Mal peitschen dem Wanderer im Thüringer Wald in 700 Metern Höhe Wind und Regen ins Gesicht. Dann sitzt er mit Grenzbewohnern am Lagerfeuer. Einige bieten ihm ein Schlafplatz an, manche trinken mit ihm sogar eine Flasche Wein.

Die Menschen, die er auf seinem Weg trifft, nehmen den größten Teil seiner Reisebeschreibung ein. Ziemlich am Anfang trifft er Kai Frobel. Der Bayer aus Oberfranken machte sich schon vor dem Mauerfall für den Naturschutz im Grenzgebiet stark. Heute kämpft er für viele Grüne Bänder überall in Deutschland.

Die Schäferin Silvia Lützelberger erzählt Mario Goldstein, wie beschwerlich ihre Arbeit ist - aber auch, wie schön: Zwar verdiene sie nicht viel Geld. „Aber dafür ist die frische Luft umsonst!“ Und mit dem ehemaligen Soldaten Fred Bokelmann spricht Goldstein über den Dienst an der Grenze und ob er geschossen hätte, wenn jemand in seinem Abschnitt geflohen wäre. „Ich kann es nicht sagen“, meint Bokelmann. „Gott sei Dank bin ich nicht auf die Probe gestellt worden.“

Die 100 Tage und 1 400 Kilometer hätten ihm vor Augen geführt, sagt Goldstein, dass aus etwas sehr Negativem etwas Positives werden kann. Und das sei auch die Botschaft des ehemaligen Todesstreifens: „Das Grüne Band zeigt, dass wir Menschen in der Lage sind, Grenzen - die vielen Menschen sogar das Leben gekostet haben - auch wieder einzureißen.“ (mz)

20 bis 25 Kilometer lief Mario Goldstein pro Tag. 
20 bis 25 Kilometer lief Mario Goldstein pro Tag. 
Ramona Goldstein