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Geschichte Geschichte: NVA-Geheimdokument offenbart kalten Papierkrieg

Von Steffen Könau 10.08.2012, 17:43

Halle (Saale)/MZ. - Es ist eines der geheimsten Dokumente des Kalten Krieges, ein Buch, für das vor 25 Jahren getötet worden wäre. Ein Buch, das heute eigentlich nicht mehr existieren dürfte. Doch es ist noch da, wie eben aus der Binderei gekommen: Das "Militärgeographische Auskunftsdokument über den Westlichen Kriegsschauplatz" wie es offiziell hieß. 16 Kilogramm tiefgefrorener Kalter Krieg auf mehr als 300 Seiten. Ein Mammutwerk, dessen Vernichtung dieser und anderer Dokumente durch die Bundeswehr nach der Übernahme der NVA angeordnet wurde. Doch einer der Männer, die die durchnummerierten Exemplare des Strategiepapieres hätten beseitigen sollen, erkannte die historische Bedeutung der Unterlagen. Und brachte ein Exemplar in Sicherheit, das der Bunkerforscher und Buchautor Paul Bergner jetzt entdeckte.

Das Dokument selbst erklärt, warum die Generale der NVA so viel Wert darauf legten, dass dem Feind bei der Nato dieses Buch nicht in die Hände fällt. Denn das als "geheime Verschlusssache" eingestufte Riesenbuch auf Russisch und Deutsch enthält alle Zahlen und Fakten zu westdeutscher Infrastruktur und Geografie, die die NVA und ihre Verbündeten benötigt hätten, um in der Bundesrepublik Krieg führen zu können.

Nicht, dass das gewollt oder offensiv beabsichtigt worden wäre. Das Aktenstück mit der Archivnummer 39.9.3200.000 ist keineswegs ein Plan für den Dritten Weltkrieg, ausgelöst durch den Warschauer Pakt. Vielmehr liegt dem 3. Weltkrieg den Karten zufolge ein Szenario zugrunde, bei dem Nato-Fliegerkräfte aus Süden und Westen zu Angriffen gegen die DDR antreten. Gründe sind im Kleingedruckten nicht angegeben, die weltpolitische Lage Anfang der 80er aber brauchte auch keine. 1979 hatte die Nato den sogenannten Doppelbeschluss gefällt, der eine Stationierung von Mittelstreckenwaffen mit Atomsprengköpfen in der Bundesrepublik vorsah, sollte die Sowjetunion nicht bereit sein, ihre in der DDR stationierten Mittelstreckenwaffen zu reduzieren. Der Warschauer Pakt begriff das als offensiven Akt des Westens.

Die Führungsspitze der DDR begann daraufhin mit den Planungen zur sogenannten Aktion Antwort. "Wer Krieg führen will, muss wissen, was auf ihn zukommt", beschreibt ein ehemaliger NVA-Offizier. Dazu gehöre die genaue Kenntnis aller Umstände, die auf dem oder den eventuellen Schlachtfeldern Einfluss auf eigene oder die Handlungen des Gegners nehmen könnten.

Was das alles sein kann, zeigt das "Auskunftsdokument westlicher Kriegsschauplatz" anschaulich. Aufgeteilt in spezielle Sachgebiete wie Straßen, Schiene, Rohrleitungen, Militärstellungen und Flugplätze zeichnet der Wälzer ein allumfassendes Porträt der Gebiete, die nach den Planungen des Warschauer Paktes im Falle eines Gegenschlages auf dem Weg der vorrückenden eigenen Truppen liegen würden. Der jeweilige Sonnenauf- wie -untergangszeitpunkt ist ebenso vermerkt wie Zahl und Verteilung der Krankenhäuser, die Vorräte an Treib- und Schmierstoffen und verwaltungstechnische Einschätzungen zu Westdeutschland, Belgien, Dänemark und den Niederlanden, während die neutrale Schweiz ausgespart bleibt.

Es gehe darum, all diese "Bedingungen im voraussichtlichen Kampfgebiet genau zu kennen und so vorteilhaft wie möglich zu nutzen", schreibt Fritz Streletz, seinerzeit Vize-Minister für Nationale Verteidigung, im Vorwort. Der grundsätzliche Plan für den Schlag nach Westen teilt sich dabei in sechs Operationsrichtungen, deren zwei nördlich in Sachsen-Anhalt ihren Ausgangspunkt haben: Die Küstenoperationsrichtung hätte zwischen Boizenburg und Gardelegen ihren Anfangspunkt gehabt, die Operationsrichtung Ruhrgebiet zwischen Gardelegen und Mühlhausen. Zusätzlich sind Operationsrichtungen im Nordwesten und "Strategische Räume" um die Ostseeausgänge und die britischen Inseln auf den Karten eingezeichnet.

Es sind keine detaillierten Kampfpläne, sondern strategische Grundsatzpapiere, die den eigenen Armeeführungen als Planungsgrundlage dienen soll. "Dieselben Karten hängen in Nato-Führungsbunkern", beschreibt Bunker-Experte Paul Bergner. "Das folgt einfach aus der militärischen Logik."

Die schaut immer in Kampfrichtung. So etwa im Bereich Straßennetz, bei dem positiv hervorgehoben wird, dass es mit 200 Kilometern Straße auf 100 Quadratkilometer Fläche in Westdeutschland fast doppelt so viele Straßen gebe wie in der DDR. Interessant für die NVA-Strategen waren die in Ost-West-Richtung - mit einer Durchlassfähigkeit von 340 000 Fahrzeugen am Tag, wie eine Überschlagsrechnung angibt. Doch auch hier regiert die Defensive: Nato-Truppen aus dem Hinterland könnten in zirka 25 Stunden die Grenze der DDR erreichen, wird geschätzt.

Sind das noch einfache Rechenaufgaben mit dem ADAC-Atlas, verraten andere Informationen aufwendige Vorarbeiten auf geheimdienstlichen Wegen. Über Jahre müssen tausende "Kundschafter an der unsichtbaren Front", wie es im DDR-Deutsch hieß, unterwegs gewesen sein, um Daten zu ermitteln, die streng geheim waren.

153 ortsfeste Führungsstellen zählt das "Auskunftsdokument" auf. Alle Führungsstellen von Nato und Bundeswehr, alle verbunkerten Leitstellen, Nachrichtenknotenpunkte und Raketenstellungen. In den Bunkern sei ein Ausharren nach dem Atomschlag für mehr als 30 Tage gewährleistet, heißt es dazu. "Selbst die größten Geheimnisse waren keine", folgert Paul Bergner auch aus einer anderen Liste mit der profanen Überschrift "Übersicht über die militärischen Lager". Hier finden sich fein säuberlich aufgereiht nicht nur Angaben zu Lagern für Bekleidung, Treibstoff und Munition. Sondern auch alle Einzelheiten zu Kapazität und Lage der Kernwaffenlager auf dem Gebiet der Bundesrepublik.