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Gefangen Gefangen: Unschuldig hinter Gittern?

Von KATRIN LÖWE 02.11.2010, 21:54

NAUMBURG/MZ. - Es sind keine fünf Minuten Fußweg für Cordula Schlemmer aus Naumburg. Keine fünf Minuten Weg, bevor sich die Gefängnistore vor der 75-Jährigen öffnen. Jeden Sonntag, alle 14 Tage einmal wochentags. Dann spielt die ehemalige Katechetin die Orgel zum Gefängnis-Gottesdienst, übt ehrenamtlich mit Häftlingen die Kirchenlieder. Einige Gefangene hat sie in fast zehn Jahren hinter den Mauern erlebt. Über die Schuldfrage, sagt sie, wird wenig gesprochen. "Eigentlich akzeptieren sie ihre Strafe und geben damit Schuld zu." Eigentlich. Bei Helmut M. hat sie das anders empfunden. Er, sagt die Kirchenmusikerin, sei der Einzige, bei dem sie zwischen den Zeilen immer wieder herausliest, wie fehl am Platz er sich fühlt. Der 74-Jährige will eine Wiederaufnahme seines Verfahrens erreichen. Das Oberlandesgericht Naumburg prüft den Fall gerade.

Langer Indizienprozess

Im Januar 2004 wird Helmut M. vom Landgericht Halle wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach 47 Verhandlungstagen, 114 Zeugenaussagen und 14 Gutachten in einem Indizienprozess, in dessen Verlauf er zwischenzeitlich wegen fehlenden dringenden Tatverdachts fast drei Monate auf freiem Fuß ist. Er hat, steht im Urteil, heimtückisch seinen Schwager in Lodersleben (Saalekreis) umgebracht. Dem 78-jährigen Herbert S. am 19. März 2002 vier wuchtige Schläge auf den Kopf versetzt, ihn mit Kabelbindern gefesselt, ihm zweimal mit einem Messer in den Hals gestochen. Helmut M. hat die Tat stets bestritten. Er sei ein gläubiger Mensch, sagt Cordula Schlemmer, "der einen offen anblickt. Ich kann ihn mir nicht als Mörder vorstellen." Dann spricht sie über offene Fragen in dem Fall.

Ein Justizirrtum? Dirk Simon glaubt: ja. 50 Seiten stark ist das Papier, mit dem der Anwalt das Wiederaufnahmeverfahren beantragt hat. Nur unter strengen Voraussetzungen kann ein rechtskräftig abgeschlossener Fall neu aufgerollt werden. Wenn Urkunden sich nachträglich als falsch herausstellen, Zeugen nachweislich gelogen haben, neue Tatsachen oder Beweise auftauchen. Oder wenn sich, wie in einem am Freitag beginnenden Prozess am Landgericht Halle, später herausstellt, dass ein Täter möglicherweise schuldunfähig war. Nach Angaben des Justizministeriums sind im Jahr 2009 in Sachsen-Anhalt in 70 Fällen Wiederaufnahmeverfahren vor Amts- und in 18 Fällen vor Landgerichten eingeleitet worden. Bis September dieses Jahres waren es 32 vor Amts- und sechs vor Landgerichten. Wie sie endeten, geht aus der Statistik nicht hervor.

Rechtsanwalt Dirk Simon erhält Honorar für seine Arbeit. Aber er sagt, er würde sich den großen Aufwand nicht zumuten, wäre er nicht überzeugt von der Unschuld seines Mandanten. "Seine Geschichte", so der Anwalt, "ist plausibel." Sie beginnt eigentlich vor Jahrzehnten. M. kommt als Vertriebener nach Lodersleben, folgt 1956 seinem Bruder nach Hamburg. Zurück bleiben seine Schwester und deren Mann Herbert. M. unterstützt die Familie nach der deutschen Teilung, schickt Pakete, Geld für den Hausbau. Nach der Wende gibt er seinen gut bezahlten Job bei einem Ölkonzern auf und kehrt zurück in die Heimat. Trifft dort eine frühere Klassenkameradin, baut mit ihr ein Haus neben dem seiner Familie.

In ihrem Testament tragen Herbert S. und seine Frau den Schwager und Bruder als Erben ein. Dann stirbt die Frau. Und Herbert S. überträgt 1996 große Teile seines Vermögens einem anderen. Die Staatsanwaltschaft geht später davon aus, dass Erbstreitigkeiten das Motiv für den Mord waren. Zeugen sagen aus, das Verhältnis habe sich nach dem Tod der Frau abgekühlt.

Für das Gericht aber bleibt das Motiv am Ende offen. Und M.s Lebensgefährtin argumentiert: "Wir brauchten das Erbe nie, haben beide eine gute Rente." Zusammen rund 3 000 Euro monatlich, das Haus sei abgezahlt. Das Verhältnis, sagt auch M.s Enkelin Fabienne, habe sich nicht geändert. Ihr Großonkel sei weiter oft zum Essen gekommen, die Zeitung habe man sich geteilt. Als ihr Großvater verhaftet wurde, "ist für mich eine Welt zusammengebrochen", erinnert sich die 24-Jährige. Er ein Mörder? "Ich habe es damals nicht geglaubt, glaube es auch heute nicht."

Das Landgericht Halle stützt sein Urteil 2004 nicht nur, aber vor allem auf ein Indiz: eine DNA-Spur von M. auf der Hand des Toten, die durch Hautkontakt entstanden sein muss. Eine Spur, an der Anwalt Simon ansetzt: M. selbst habe das Mordopfer gefunden, es angefasst, um nach Lebenszeichen zu suchen. Doch Helmut M. hat damals nicht die Polizei informiert. Er stand unter Schock, habe nicht rational handeln können, sagt Simon. Auch vor Gericht kam diese Version nie zur Sprache. Der damalige Anwalt seines Mandanten habe ihm davon abgeraten, erklärt Simon - "darüber liegt mir eine eidesstattliche Versicherung vor." Offenbar hatte er befürchtet, das Gericht würde die Geschichte als Schutzbehauptung abtun.

Entscheidung steht bevor

Außerdem ist da noch ein Brief, den das Mordopfer seinem Schwager gegeben haben soll für den Fall, dass ihm einmal etwas passiere: In ihm steht, er sei zur Überschreibung seines Besitzes erpresst worden. Dem sei die Polizei "nicht im Ansatz nachgegangen", so Anwalt Simon. Christa W. fand den Brief in einem Karton voller Sachen wieder, die die Polizei ihr zurückgab.

Voller Spannung wartet die Familie jetzt auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts. Sie könnte laut einer Sprecherin noch in dieser Woche fallen. In erster Instanz war der Wiederaufnahmeantrag abgelehnt worden. Simon sagt, er werde notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht gehen. Helmut M.s Familie hält weiter zu ihm. "Ich habe nie an seiner Unschuld gezweifelt", sagt Christa W.