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Freie Republik Schwarzenberg Freie Republik Schwarzenberg: Vor 70 Jahren selbst regiert - heute existiert die Republik Schwarzenberg im Netz

Von Steffen Könau 18.05.2015, 07:23
Bildhauer Jörg Beier hatte bereits im Jahr 1990 die Idee, das Erbe der Republik Schwarzenberg zu bewahren.
Bildhauer Jörg Beier hatte bereits im Jahr 1990 die Idee, das Erbe der Republik Schwarzenberg zu bewahren. DPA Lizenz

Schwarzenberg - Der Innenminister war nur einsfünfundsechzig groß. Wenn er seine Treppe hinunterstieg, muss er auch an der ganz engen Stelle nicht den Kopf einziehen. Der Innenminister hörte zuletzt etwas schwer. Vorsichtshalber hielt er den Schädel mit der großen schwarzen Brille deshalb immer ein bisschen schräg.

Paul Korb, der vor 70 Jahren zu den Gründern der Freien Republik Schwarzenberg gehört, legte keinen Wert auf das Protokoll. Er war Arbeiter und er blieb im Grunde genommen einer, bis er 2002 im ehrwürdigen Alter von 97 Jahren starb: Der letzte Zeitzeuge der unerhörten und historisch einmaligen Ereignisse in der kleinen sächsischen Stadt Schwarzenberg.

„Am 9. Mai 45“, erinnerte sich Paul Korb in den 90ern, ein alter, aber hellwacher Mann, „hörten wir im Radio von der Kapitulation“. Korb, KPD-Mitglied Nummer 338 925 und unter den Nazis lange im KZ, atmete auf. Aber was nun? Ganz Schwarzenberg wartet auf die Besatzungstruppen.

Zwei Tage Ungewissheit

Zwei Tage lang herrscht bange Ungewissheit, wer kommen wird: Paul Korb und seine Freunde, „alles alte Genossen“, hoffen auf die Russen. Die meisten anderen sehnen dagegen die Amis herbei. Und dann lässt sich einfach niemand blicken. Die Sowjetarmee rückt von Osten kommend bis Annaberg vor. Die Amerikaner bleiben einfach bei Aue stehen.

„Wir wissen bis heute nicht, was da schiefgegangen ist“, sinnierte Korb später. Sollte etwa der Raum Schwarzenberg als Rückzugsraum für die aus der Tschechei zurückflutenden deutschen Truppen freigehalten werden? Oder hatte es nur ein Missverständnis bei der Absprache über die geltende Vormarschlinie gegeben?

Warum keiner kam, die Schwarzenberger zu befreien, hat Paul Korb aber damals eher weniger interessiert. „Es war ja nun offensichtlich so, dass die uns vergessen hatten“, brummelte der kleine Mann im weichen erzgebirgischen Idiom, wenn er danach gefragt wurde. Ein Irrwitz der Weltgeschichte. Während ganz Deutschland von den Siegermächten besetzt ist, regiert in Schwarzenberg weiter der Nazi-Bürgermeister, hält der Nazi-Landrat weiter ratlos in seinem Amtssitz aus.

Der Schwarzenberger Bildhauer Jörg Beier hatte bereits im Jahr 1990 die Idee, das Erbe der Republik Schwarzenberg zu bewahren, obwohl es diese Republik in Wirklichkeit nie gegeben hat. Mit der Künstlergruppe Kunst-Zone pflegt Beier die „brillante Erfindung von Stefan Heym, die er 1984 in seinem Roman ,Schwarzenberg’ literarisch gestaltete“ - etwa, indem der Verein Behörden und europäische Institutionen mit der Bitte anschrieb, die „Freie Republik Schwarzenberg“ als Teil des vereinten Europa anzuerkennen. Ziel der Neugründung sei wie damals nach dem Zweiten Weltkrieg wenig Bürokratie und der Versuch, eine Keimzelle der Kreativität zu werden.

Daraus wurde nichts, weil sich die EU-Kommission außerstande sah, das Staatssymbol der Freien Republik zu genehmigen, das unter Verwendung der Europa-Sterne und eines Tannenbaumes vom Geraer Grafiker Eberhard Dietzsch entworfen worden war. „Die Verwendung der Europaflagge ist so leider nicht möglich“, hieß es in Brüssel, „die Flagge muss noch mehr entfremdet und der Tannenbaum wesentlich größer hervorgehoben werden.“

Die sagenumwobene Republik existiert inzwischen vor allem im Internet. Auf ihrer Seite verkaufen Fotografen, Grafiker, Designer und Bildhauer T-Shirts, Kerzen, Karten und Bücher unter dem Schlagwort „Etwas andere Kunst aus dem Erzgebirge“. (stk)

2.000 Quadratkilometer zwischen Schneeberg, Johanngeorgenstadt und Großenhain und 300.000 Einwohner hat das nichtbesetzte Dritte Restreich Mitte Mai. „Die Lage war prekär“, erinnert sich der gelernte Lackierer Korb, der im Krieg für ein Bewährungsbataillon zwangsverpflichtet wurde, ehe ein Bauchschuss ihn nach Hause brachte. Lebensmittel gibt es kaum, dafür Flüchtlinge. Marodierende deutsche Soldaten rauben, was sie finden können. Naziführer verstecken sich in den Wäldern.

„Wir mussten irgendetwas machen“, blickt Korb zurück. Aus Männern, die als „wehrunwürdig“ eingestuft worden waren, aus KZ-Häftlingen und überzeugten Nicht-Nazis bildet sich in Korbs Wohnung der „Antifaschistische Aktionsausschuss“.

Für große Pläne ist keine Zeit. „Am Abend sind wir bewaffnet in Rathaus und Post eingerückt“, beschreibt Korb. Widerstand gibt es keinen. Bürgermeister Ernst Rietzsch, im Büro überrascht, bekommt ein knappes „Raus!“ zugeraunzt. Die Nazi-Bürgerwehr wird friedlich entwaffnet.

Alles in allem dauert die Revolution von Schwarzenberg anderthalb Stunden. „Um 23 Uhr hatten wir die Stadt in der Hand“, war Korb stolz. Rietzsch sperren sie in den Schlossturm. Arbeiter patrouillierten durch die Straßen.

Zum Innenminister wird Paul Korb am nächsten Morgen gegen sieben. Da tagt der Aktionsausschuss, um die notwendigsten Ämter zu besetzen. Willy Irmisch macht den neuen Bürgermeister, weil er vor 1933 im Stadtrat war. Die Kommunistin Helene Scheffler übernimmt das Ressort Ernährung. Und Paul Korb, vor Hitler im Parteiselbstschutz der KPD, wird Polizeichef.

Es ist eben niemand anders da. Nur „Innenminister“ hätten sie ihn damals nicht genannt. Korb seufzt: „Wir haben ja auch nie von Regierung gesprochen.“ Dazu gab es viel zu viele andere Probleme: „Wir mussten die Nazis wegrasieren und den Leuten was zu beißen geben - das war doch das Wichtigste.“

Keinen Gedanken verschwendeten die drei Kommunisten und die beiden Sozialdemokraten an der Spitze der Stadt an eine „Verfassung oder solchen Quatsch“ (Korb). Diese Gerüchte kamen erst später auf, als Schwarzenberg längst Teil der DDR war. Da murrten die alten Kämpfer gelegentlich, weil man sie zwar Vorträge in Schulen und vor Arbeitskollektiven halten ließ, sonst aber nicht viel die Rede sein sollte von der „unbesetzten Zone“.

Bloß eine winzige Fußnote in der achtbändigen Geschichte der Arbeiterbewegung billigte die DDR-Geschichtsschreibung den Schwarzenbergern zu. „Der Irmisch-Willy hat dann mal zu mir gesagt“, grübelte Paul Korb später, „du, Paul, dein Ulbricht ist sauer, weil wir ohne Russen neu angefangen haben“.

Anfangs hat Korb abgewunken. Später meinte er, es könne schon was dran sein. Eine Führung, „die sich nicht traut, unter dem Volk zu leben, kann schon auf idiotische Gedanken kommen“.

Korb blieb allerdings trotzdem Kommunist. Und er sammelte Bücher über die sechs Wochen nach Kriegsende. Für Johannes' Arnolds „Aufstand der Totgesagten“ ist er seinerzeit bis Rostock gefahren, um es zu bekommen. Auch „Die ersten Schritte“ von Werner Groß, der Korb den Namen „Raubold“ verpasste, sei ganz gut gelungen, meint er. Nur auf Stefan Heym, den eigentlichen Begründer des Schwarzenberg-Mythos, war Paul Korb immer sauer. „Der hat sich die ganze Geschichte drei Tage lang von mir erzählen lassen“, klagte er schmunzelnd, „und dann hat er ziemlich viel rumgedichtet“.

Zuviel. Korb, 1921 in den kommunistischen Jugendverband eingetreten, denkt, „dass wir natürlich an eine gerechte Gesellschaft gedacht haben, als wir anfingen“. Allerdings habe auf der Tagesordnung anderes gestanden als Träume vom Sieg des Sozialismus: „Wir hatten gar keine Zeit für Träume.“

Keine Zeit für Gesetze

In seinem ersten Aufruf an die Einwohner teilte das Aktionskomitee stattdessen schlicht mit: „Alle nationalsozialistischen Gesetze sind außer Kraft gesetzt. Im Moment ist jedoch keine Zeit, neue zu erlassen.“ Das war eigentlich alles: „Die Republik Schwarzenberg, die hat erst der Heym erfunden.“

Richtig ist, dass Russen und Amerikaner sich raushielten aus Schwarzenberg. „Die Amis sind bloß zweimal gekommen“, erinnerte sich der letzte Überlebende des Aktionsausschusses Mitte. „Einmal haben sie alle historischen Waffen beschlagnahmt, dann alle Leica-Kameras eingesammelt.“

So frei war die freie Republik nicht, dass sie dagegen etwas hätte sagen können. Im Übrigen, sagt Korb, „haben wir ja die ganze Zeit gewusst, dass sie eines Tages kommen werden“. Mehrmals ist er sogar selbst zu den „Freunden“ gefahren, um „die doch noch zu überreden, uns doch endlich zu besetzen“. Aber Marschall Mologow beendete jede Nachfrage mit dem Satz „Ich Befehl bis Annaberg“.

„Ohne jede Obrichkeit“, so Korb im erzgebirgischen Dialekt, trotzt das Aktionskomitee also notgedrungen dem totalen Zusammenbruch. „Wir wussten, dass wir paar Mann nicht regieren können“, meint Korb. Von SPD und KPD waren nur noch Reste übrig. „Also haben wir einen Aufruf gemacht und gesagt: alle Bürger über 14 Jahre können in der antifaschistischen Bewegung mitmachen.“

Das Wunder geschieht: 6.000 Menschen tragen sich in die Mitgliederlisten ein. „Die Menschen waren so verzweifelt, die folgten halt dem ersten, der ihnen einen Weg aus dem Elend weisen wollte.“

Genug Arbeit ist für alle da. Waffen, die verstreut in den Wäldern liegen, müssen eingesammelt, Munition muss geborgen werden. Post und Müllabfuhr werden in Gang gebracht, eine Zeitung herausgegeben und Transportmöglichkeiten für Zwangsarbeiter geschaffen.

"Wir haben Essen besorgt und Nazis gejagt."

„Wir haben Essen besorgt und Nazis gejagt“, berichtete Korb. Manchmal auch zusammen. So gelingt es Korbs Männern, den sächsischen Reichsstatthalter Martin Mutschmann in einer abgelegenen Jagdhütte aufzustöbern. Hier hatte der Nazi, versorgt mit drei Zentnern Butter, 700 Büchsen Rindfleisch und elf Kisten Schokolade, auf den Endsieg warten wollen.

Ein Glückstreffer für die Stadt. Meist dagegen bleibt dem Aktionsausschuss nur der Appell an die hungrigen Schwarzenberger: Stockungen in der Lebensmittelversorgung müssten „verständnisvoll in Kauf genommen werden“, schreiben sie auf ein Plakat.

„Klar, dass wir immer gewartet haben, dass jemand anders die Verantwortung übernimmt“, beschreibt Korb. Doch erst Ende Juni ist es soweit. Russen und Amerikaner haben sich endgültig über die Aufteilung Deutschlands geeinigt - die US-Truppen ziehen aus Aue ab, die Rote Armee stößt vor bis Erfurt.

Am Vormittag des 26. Juni treffen die Besatzer in Schwarzenberg ein. Ein Offizier, begleitet von zehn Soldaten und einer Dolmetscherin, übernimmt die Macht in der Republik. Paul Korb bleibt bis 1947 Polizeichef, dann wird er aus der SED geworfen und erst 1956 rehabilitiert. Korb arbeitet dann für die Staatssicherheit und für den Rat des Kreises. Bürgermeister Irmisch verliert gleich die erste Wahl gegen einen CDU-Mann. Der Antifaschistische Aktionsausschuss wird Anfang Juli von Marschall Mologow aufgelöst. Nicht nur der Krieg ist zu Ende, sondern auch die Zeit ohne Obrigkeit. (mz)

Der 2002 verstorbene Paul Korb war der letzte lebende Teilnehmer der Ereignisse von Schwarzenberg 1945.
Der 2002 verstorbene Paul Korb war der letzte lebende Teilnehmer der Ereignisse von Schwarzenberg 1945.
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