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Flughafen Leipzig/Halle Flughafen Leipzig/Halle: Im Schatten der Zukunft

Von Andreas Hillger 20.04.2008, 18:45

Kursdorf/MZ. - Die Distanz zwischen Vergangenheit und Zukunft wird mit zweierlei Maß gemessen: "0,5 km" lautet die offizielle Angabe am Ortsausgangsschild von Kursdorf, der wirkliche Abstand zwischen dem letzten Haus des Ortes und dem ersten Zaun des Flughafens aber beträgt höchstens einen Schritt. Präziser wäre es ohnehin, wenn man die Entfernungen hier in Dezibel umrechnen würde. Denn das kleine Dorf bei Schkeuditz geht nicht an der Begrenzung seines Horizontes, sondern an der permanenten Geräuschkulisse über seinen Dächern kaputt.

Auch jetzt rauscht im Hintergrund die Autobahn, während startende und landende Flugzeuge an diesem Samstagnachmittag eher selten für Lärmspitzen sorgen. Lukas Matthaei spricht dennoch lauter, als es sich eigentlich für einen Friedhof ziemt. Der Berliner Regisseur, der gemeinsam mit anderen Künstlern seit einer Woche in Kursdorf zu Gast ist, kennt zu vielen der in Stein gemeißelten Namen eine Geschichte.

Nur selten Gottesdienst

Auf allen Gräbern blühen frische Blumen - doch im Schatten der Kirche, deren Fassade erst 2001 restauriert wurde und in der nun nur noch selten Gottesdienst gefeiert wird, bleibt zwischen den Beeten viel Platz. Selbst ihre Toten, sagt Matthaei, nehmen manche Aussiedler aus der alten Heimat mit.

Seitdem am Flughafen Halle / Leipzig im Jahr 1995 die erste Ausbau-Stufe begann, läuft der Countdown in dem 1497 erstmals erwähnten Dorf. Als ab 2003 die Voraussetzungen für das DHL-Drehkreuz geschaffen wurden, betraf dies 197 Einwohner. Inzwischen - so rechnet die Dorfchronik im Internet vor - passen alle Kursdorfer in einen Bus. Und demnächst, so heißt es, wird ein Kleinbus genügen.

Jugendklub und Gartenverein befinden sich bereits in Auflösung, der Fußballklub Kursdorf 58 aber spielt mit immerhin noch vier Ortsansässigen in der dritten Kreisliga - und hat auf eigenem Platz an diesem Wochenende 3:0 gegen Lindenthal gewonnen. Am Abend zuvor saßen die freiwilligen Feuerwehrleute in ihrem Gerätehaus, das seit diesem Jahr nur noch ein Traditionszentrum ist - und sahen in den "Tagesthemen" mal wieder einen Bericht über ihr Dorf.

"Aus Flughafensicht" heißt das Projekt des Thalia-Theaters Halle, das für diese erneute mediale Aufmerksamkeit gesorgt hat. Benjamin Förster-Baldenius, einer der Kuratoren, fasst den Tonfall des ARD-Berichts zynisch zusammen: "Künstler helfen einem Dorf beim Sterben". Tatsächlich könnte es so wirken, wenn man nur für einen oberflächlichen Augenblick verweilt: Großstadt-Intellektuelle folgen Wegweisern, die den Ortsnamen zum trendigen "Diskursdorf" erweitern - und erzählen ihresgleichen von einem Sommercamp mit Jugendlichen, von szenischer Installation in einem leerstehenden Eigenheim oder von einer fiktiven Archäologie auf dem Feld zwischen Ort und Airport. Die wenigen Fenster, hinter denen noch Gardinen hängen, bleiben dabei geschlossen. Und die Flughafenpolizei fährt ihre Runde demonstrativ langsam.

Wenn man aber genauer hinhört, wird man ernsthafte Anteilnahme erkennen: Die Projekt-Teilnehmer, die für ihre Karriere selbst auf Mobilität angewiesen sind, haben in Kursdorf ein stilles Symbol für den Preis des Fortschritts entdeckt. Anders als Ortschaften, die beispielsweise für den Braunkohle-Abbau restlos weggebaggert werden, ist dieser Ort vorerst nicht vom physischen Verschwinden bedroht. Wer bleiben will, darf bleiben.

Schmerzhafter Prozess

Doch wer den Lärm nicht länger erträgt, kann sein Haus an den Flughafen verkaufen und ins benachbarte Altscherbitz ziehen, wo inzwischen viele Kursdorfer wohnen. Diese scheinbare Freiwilligkeit ist es, die den Prozess so langwierig und schmerzhaft macht. "Für uns", so hat Kuratorin Cora Hegewald bei ihren Gesprächen im Ort gehört, "kommt ihr entweder zu früh oder zu spät."

Da dieses unzeitgemäße Auftreten aber eine Chance für die Kunst darstellt, dürfte das Thalia-Projekt Bewusstsein für Probleme wecken, die nicht nur Kursdorf betreffen. Im ehemaligen Dorfgasthof - den zuletzt ein griechischer Wirt in eine knallbunte Parodie auf jene Ferienorte verwandelt hatte, zu denen die Ferienflieger über Kursdorf unterwegs sind - dürfte im Juni über die Opfer des Einzelnen für den allgemeinen Fortschritt diskutiert werden. Und im Flughafen selbst, der während des halleschen Festivals "Theater der Welt" in die Konzeption einbezogen werden soll, könnten Reisende Geschichten aus jenem Ort erfahren, den man auf dem Weg von der Gepäckaufgabe zum Sicherheits-Check links hinter den Fenstern sieht.

Und vielleicht gibt es dann auch wieder eine Veranstaltung in der Kirche, die laut einer Inschrift bereits aus dem Jahr 1310 stammt - und an deren Empore auch das Versprechen steht: "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden."

Kursdorf im Internet: www.kursdorf.net