Erlebnisbericht Erlebnisbericht: Viel zu jung für den Krebs

Halle/MZ - Wird schon nichts sein“, hatten alle immer gesagt. Klar, mit Ende 20 gehört man ja auch nicht zur Risikogruppe für Krebs. Zumal, wenn man familiär nicht „vorbelastet“ ist, wie es immer heißt. Kann ja auch eine harmlose Zyste sein. Doch dieses unheimliche Gefühl, dass etwas mit ihr nicht stimmt, hatte Luca Sand (Name geändert), 28 und voller Pläne, schon seit einiger Zeit nicht losbekommen. Es hatte sie Monate verfolgt, bevor sie im Oktober 2011 dieses harte Gebilde in ihrer linken Brust spürte. Mehr aus Zufall, aber wie zur Bestätigung.
Einen Monat später - nach Sonografie, Mammografie, Biopsie - ist dieser gut gemeinte Satz plötzlich nichts mehr wert: Wird schon nichts sein. Das Ergebnis der Gewebeentnahme lässt keinen Raum für Interpretationen: „Sie haben Brustkrebs, Frau Sand.“ Die Theaterpädagogin, die sich ein halbes Jahr zuvor gerade erst selbstständig gemacht hat, spürt alles auf einmal: Ernüchterung, Ohnmacht, Angst. Die Kehle wie zugeschnürt, Tränen im Gesicht. Es ist Mittwoch, der 23. November 2011, 13.45 Uhr, als sich für sie alles ändert. Krebs. Während ihr Blick auf der Uhr im Sprechzimmer verharrt, überlegt sie fieberhaft, wie sie das mit ihrem Job regeln soll. Der bösartige Tumor, 1,5 Zentimeter Durchmesser, befinde sich im fortgeschrittenen Stadium, sagt die Ärztin. „Das ist alles wie ein Film an mir vorbeigerauscht“, so Luca Sand heute.
Heute. Es ist nicht alles überstanden, aber die Hallenserin ist im Leben zurück. Es fühlt sich wie ein Befreiungsschlag an. Die junge Frau mit den drei großen Leidenschaften Theater, Tanz und Literatur geht wieder raus, hat die Perücke längst abgesetzt, trägt jetzt kurz. Hat viele berufliche Pläne und verabredet sich wieder, tanzt beim Zumba mit. „Ich genieße wie nie, mein Ding zu machen“, sagt sie. Mit 2012 liegt ein Jahr des Hoffens und Bangens, des Kämpfens und Zweifelns hinter ihr. Eine Zeit, in der sie sich öfter gefragt hat, ob sie das 30. Lebensjahr noch schaffen wird. Das hat sie - der Krebs ist weg. Und sie ist dankbar dafür. Luca Sand achtet jetzt mehr auf sich. Und sagt: „Ich bin zufriedener und ausgeglichener als je zuvor.“
Sie sagt aber auch: „Man wird gemieden.“ Bei den Freunden habe der Krebs Spreu vom Weizen getrennt. Irgendwann sei bei vielen die Zeit vorbei gewesen, in der sie sie besuchten und offen mitfühlten. Die schmerzlichste Erfahrung für Luca Sand in dieser Zeit. „Ich hatte immer gesagt, dass ich darüber reden will - aber von vielen hörte ich nur, dass sie Angst hätten, mich darauf anzusprechen“, erzählt sie - und man merkt ihr die Wut darüber an.
Schließlich gab es in diesen Monaten so vieles, das sie loswerden, das sie erzählen wollte. Wie sie sich etwa mit ihrer Ärztin wegen der Chemotherapie anlegte, die „wie in einer Bahnhofshalle“ (Luca Sand) in einem großen Raum verabreicht wurde. Wie sich bei der stundenlangen Prozedur Patienten mit ihren Krankheiten zu übertrumpfen versuchten. Oder wie schwierig es war, sich Augenbrauen im Sommer zu schminken - weil bei der Hitze alles verläuft.
Einmal hatten Luca Sand und ihr Freund zu sich nach Hause eingeladen. Lange saßen sie mit Freunden zusammen, sie hatte sogar die Perücke abgenommen. Doch: „Es kam nicht ein einziges Mal die Frage, wie es mir geht.“ Mit der Krankheit seien aber auch Leute in ihr Leben getreten, die sie mit ihrem Mitgefühl überraschten. Auf die konzentriere sie sich jetzt. Und natürlich auf die Menschen, auf die sie sich sowieso verlassen kann. „Uns beide hat in der Zeit immer der Humor getragen“, sagt sie etwa über ihren Freund, der ihr „in den Hintern getreten hat, als ich begann, mich abzuschotten“. Oder ihre sehr gute Freundin. „Sie sagt mir jedes Mal: ,Du bist meine Kriegerin’“, erzählt sie mit Tränen in den Augen.
„Es waren vor allem die sozialen Kontakte, die mich am Leben gehalten haben“, sagt auch die 27-jährige Anna Küchler (Name geändert). Die Hallenserin musste sich schon als Teenager mit dem Thema Krebs auseinandersetzen - und tut dies bis heute. Sie war 13, als sie erfuhr, dass es sich bei der Beule an ihrem Bauch um einen seltenen Eierstocktumor im Endstadium handelte. Heute ist sie sicher: Ihre kindliche Unvoreingenommenheit hat ihr damals die große Zuversicht gegeben, über die sie bis heute staunt. Es muss ihren Eltern das Herz gebrochen haben, als sie nach der Diagnose fragte: „Hab’ ich jetzt dasselbe wie Oma?“. Sie war mit ihr gemeinsam erkrankt.
Während Anna Küchler nach der Entfernung des betroffenen Eierstocks, mehreren Chemotherapien, Bluttransfusionen und schließlich der Reha wieder zu Kräften kam, überlebte ihre Großmutter den Brustkrebs nicht. „Da wurde mir das erste Mal so richtig bewusst, dass das mir auch hätte passieren können“, erinnert sich die junge Frau mit den langen, blonden Haaren, die sich heute bei der Sachsen-Anhaltischen Krebsgesellschaft engagiert - weil sie Gutes zurückgeben will. Denn: „Mich haben damals so viele Menschen unterstützt.“
Auch, wenn sie als geheilt gilt, erinnert sie ihre Bauchnarbe jeden Tag an diese Zeit. Lange trug Anna Küchler auch die drängende Frage mit sich herum, ob es sich bei ihrer Erkrankung um eine genetisch verursachte handelte - und sie die Anlage an eigene Kinder weitergeben würde. „Das hat mich total beschäftigt, weil ich irgendwann Kinder haben will.“ Eine Humangenetikerin konnte sie beruhigen.
Fotos von ihrer Zeit mit dem Krebs lösen in der gelernten Kosmetikerin, die heute als Verkäuferin arbeitet, noch immer ein ungutes Gefühl aus - besonders wenn sie darauf keine Perücke trägt. Schon damals hätten sie selbst Freunde unter keinen Umständen ohne Perücke sehen dürfen. „Das wäre ganz furchtbar für mich gewesen“, sagt Anna Küchler.
Ein Gefühl, das auch Luca Sand kennt. „Es macht einen so verletzlich, wenn man keine Haare mehr hat. Sie sind ja auch Schutz.“ Und Teil der Identität. Bei ihr war das ganz besonders so: „Meine langen, dicken, rot gefärbten Haare waren mein absoluter Stolz“, erzählt sie. „Ich machte mir mehr Sorgen, sie zu verlieren, als die Brust.“ Weil man das weniger verbergen kann, weil auch Haare Weiblichkeit vermitteln. Natürlich sei sie heute aber froh, dass ihre Brust nicht entfernt werden musste, betont sie. Und erzählt von dem Tag, als sie sich von der Perückenexpertin die Haare abrasieren ließ. „Ich habe vorher unglaublich geweint.“ Ihre Freundin war dabei, sie schnitten erst einen biederen Bob, dann einen abgefahrenen Irokesen, machten Fotos. An ihre braune Langhaar-Perücke habe sie sich nie gewöhnen können, sagt sie. „Das war nicht ich.“
Weil ihr Tumor hormonabhängig war, bekommt Luca Sand Tabletten und Anti-Hormonspritzen. „Damit werde ich quasi in die Wechseljahre versetzt“, sagt sie und wedelt mit einem Stück Papier vor ihrem Gesicht. Die Hitzewallungen. Sie lösen manchmal heftige Angst in ihr aus. Angst, viel zu früh sterben zu müssen. Ob sie Kinder wolle, hatte die Ärztin bei der Verkündung der Diagnose gefragt. Natürlich! „Am liebsten drei.“ In ihrem Umfeld werden gerade viele Eltern, erzählt sie. „Diese Kinderfrage tut sehr weh.“ Denn, ob sie je eigene bekommen kann, wissen weder sie, noch ihre Ärzte. Daran verzweifeln will Luca Sand aber nicht. Sie weiß: „Es ist alles schaffbar.“