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Entschädigungen für DDR-Heimkinder Entschädigungen für DDR-Heimkinder: Der Hindernislauf der Opfer

Von Ralf Böhme 15.10.2013, 05:39
Manchmal fühlt sich Mike Then als Bittsteller. Der Wernigeröder will Hilfe aus dem Entschädigungsfonds für ehemalige DDR-Heimkinder.
Manchmal fühlt sich Mike Then als Bittsteller. Der Wernigeröder will Hilfe aus dem Entschädigungsfonds für ehemalige DDR-Heimkinder. Chris Wohlfeld Lizenz

Torgaus/Wernigerode/MZ - Düstere Räume, harte Pritschen, Gitter vor den Fenstern – der berüchtigte Jugendwerkhof in Torgau (Sachsen). Wenn Mike Then die Tür der früheren Strafanstalt öffnet, erwartet den Mann aus Wernigerode (Harz) die Vergangenheit. Mitte der achtziger Jahre – der DDR-Staat sieht in dem Teenager einen Feind. Er gilt als aufsässig, rebellisch, schwer erziehbar und kommt für ein halbes Jahr nach Torgau. Später folgen weitere Aufenthalte in Spezialheimen.

Als er jüngst den ehemaligen Jugendwerkhof besucht, in dem heute eine Gedenkstätte ist, bricht er nach zehn Minuten ab. „Das war die Hölle für mich, ich muss hier raus.“ Wieder auf der Straße sagt der 40-Jährige: „Es sind ganz böse Erinnerungen.“ Niemals könne er vergessen, wie ihm ein „Erzieher“ ein schweres Schlüsselbund ins Kreuz wirft. Als sei es erst gestern gewesen, sieht er sich in Arbeitskleidung auf dem Appellplatz stehen. Schläge und Tage in der Dunkelzelle, Ausgangssperre und kein Taschengeld - die Vorstellung daran weckt noch drei Jahrzehnte danach Gefühle, die Then sonst nicht kennt: Angst und Wut.

Für die ihm angetane Gewalt gibt es heute Hilfen und eine finanzielle Entschädigung. Der Bund stellt für die Opfer von Gewalt in DDR-Heimen 40 Millionen Euro bereit. Die Hälfte stemmt der Bund. Die restliche Summe steuern die ostdeutschen Bundesländer bei - Sachsen-Anhalt bringt 3,6 Millionen Euro auf. Inzwischen besteht der Hilfsfonds mehr als ein Jahr. Aus ganz Sachsen-Anhalt liegen bislang 1 300 Anträge vor, aber erst 525 sind bearbeitet. Für viele Betroffene bedeutet das eine harte Geduldsprobe, die sich noch hinziehen kann. Bei ihnen wächst die Sorge, möglicherweise leer auszugehen. Holger Paech, Sprecher des Sozialministeriums in Sachsen-Anhalt, beschwichtigt: „Die Einzelfallprüfung muss sorgfältig erfolgen.“ Aber kein Berechtigter brauche Angst zu haben, das Geld werde ausreichen.

Antragsteller ist immer in der Beweispflicht

Heim-Opfer Mike Then indes weiß, wogegen sich seine Kritik richtet. Ihn stört „der enorme bürokratische Aufwand“. Als Beleg dafür dient ihm sein Ordner mit der Aufschrift „Opferhilfe“. Abgeheftet sind jede Menge Briefwechsel, unter anderem mit der für ihn zuständigen Opfer-Beratungsstelle in Magdeburg. Im Höchstfall stehen ihm 10 000 Euro zu, allerdings nicht direkt ausgezahlt. Der Fonds begleicht nur Rechnungen für Anschaffungen oder andere Leistungen. Ohne vorheriges behördliches Einverständnis laufe nichts. Für jede Ausgabe müsse er drei Kostenvoranschläge einholen und nach Magdeburg schicken. So habe es Monate gedauert, ehe Then die von ihm erbetenen neuen Möbel aufbauen konnte. Auf einen anderen Antrag steht die Antwort noch aus. Unklar ist, ob sie noch in diesem Jahr eintrifft.

Then beschreibt das Problem so: Immer ist der Antragsteller in der Beweispflicht. Oft führt das zu einem für Betroffene zermürbenden Hindernislauf. Nicht jeder halte so etwas durch. Mancher gebe auf halbem Wege auf.

Von einer „schweren seelischen Last“ spricht auch Karl-Heinz Stiemer, der gleichfalls in mehreren Heimen einsaß. Manchmal fühle er sich allein gelassen. Seit Jahren sucht der Wolfener nach Papieren aus jener Zeit – bislang vergeblich. Seine letzte Hoffnung: die Stasi-Unterlagenbehörde. Wenn sich dort nichts Verwertbares finde, wisse er nicht mehr weiter. Zudem werde der Fonds bald geschlossen, 2017 sei Schluss.

Auch in punkto Rentenversicherung läuft bei ehemaligen Heimkindern nicht immer alles rund. Ein häufiger Grund: Aus DDR-Zeiten fehlen Arbeitsnachweise. Nicht in jedem Falle kann der Fonds die Ungerechtigkeiten heilen, im Fall von Mike Then klappt es aber. Sein Glück: Im Archiv eines Jugendamtes ist nämlich seine 200 Seiten umfassende Heimakte aufgetaucht. Damit ist Thens Entwicklung als Kind und Jugendlicher dokumentiert. So geht aus den Unterlagen hervor, wie ihn die DDR-Jugendhilfe schon als Schüler der zweiten Klasse aufgreift und in die Kategorie „verwahrlost“ einstuft.

Nicht allen, die DDR-Heime durchlaufen, gelingt nach dem Mauerfall der Absprung. Then schafft ihn. Er sucht sein Glück in Hannover, landet aber schließlich im Harz. In Wernigerode gründet der Mann aus dem Jugendwerkhof eine Familie und findet auch Arbeit. Er ist in einem Krankenhaus angestellt, versorgt Patienten mit Mahlzeiten. In der Freizeit trainiert Then den örtlichen Fußball-Nachwuchs.

Gerade weil es manchem ehemaligen Heim-Insassen nicht so gut wie ihm geht, will Then helfen. Es reiche nicht, sich in Internet-Foren auszutauschen. Betroffene müssten sich hörbar zu Wort melden. Auch deshalb erwägt er jetzt die Gründung eines Opfer-Vereins. Die Zeit drängt. Am 30. Juni 2016 endet die Antragsfrist. Und bislang, so der Bund, sind erst 13,9 Millionen Euro ausgezahlt.

Die Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof in Torgau.
Die Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof in Torgau.
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