Elbingerode Elbingerode: Der Junge der ihr die Pistole wegnahm

Elbingerode/MZ - Eckige Brille, rundes Gesicht, rotes „Norway“- Sweatshirt und knapp 1,70 Meter groß - so sehen Helden aus. Janik Holland ist zurückhaltend, aber nicht ängstlich, selbstbewusst, aber nicht frech - ein freundlicher Junge von 14 Jahren, über dem gerade eine Welle zusammenbricht: Bewunderung, Neugierde, Anrufe von Journalisten und Kamerateams, die plötzlich vor seinem Haus in Elbingerode (Harz) auftauchen. Denn seit dem 26. Februar, 10 Uhr, ist Janik kein normaler Junge mehr. Seit einer knappen Woche ist er der Junge, der einer Mitschülerin, die wild im Klassenraum herum schoss, die Waffe abnahm.
Heute sitzen wir mit ihm in der Küche des elterlichen Hauses in Elbingerode. Vor dem niedrigen Gebäude türmen sich noch die Schneeberge, drinnen stehen ein kleines Glücksschweinchen und ein Abreißkalender mit Tageslosungen auf dem Tisch. Janik trinkt Kirschsaft mit Wasser und wirkt äußerlich völlig unbelastet - wären da nicht die kleinen schwarzen Punkte auf seiner linken Wange, die wie Bartstoppeln aussehen.
„Das ist eine Schmauchwunde“, sagt Janik sachlich. Das Wort musste er nach dem Vorfall im Wernigeröder Gerhart-Hauptmann-Gymnasium erst lernen. Kleine Pulverreste haben sich in die Haut in seinem Gesicht gebrannt, sind regelrecht eintätowiert. Janik war nicht nur derjenige, der dem 15-jährigen Mädchen die Waffe abgenommen hat. Er war auch der Erste, den sie mit ihren Schüssen traf.
Knalltrauma wie ein Soldat
Diese Szene wird er in seinem Leben niemals vergessen: Es ist Dienstag, 10 Uhr - die Zeit muss entgegen den ersten Berichten um eine halbe Stunde nach hinten korrigiert werden. Die achten Klassen haben zusammen Französisch. Janik aus der 8c sitzt eine Bank vor der Schülerin aus der 8b, als sie plötzlich aufspringt. „Sorry, ich muss jetzt schießen“, hört Janik sie noch rufen. „Und dann hat sie schon geschossen.“ Sie brüllt noch etwas. War es „Ich hasse euch alle“, wie andere Augenzeugen später angeben werden?
Janik weiß es nicht. „Den Rest habe ich nicht mehr verstanden“, sagt er. Schon nach dem ersten Schuss aus der Schreckschuss-Pistole erleidet er ein Knalltrauma - etwas, was ansonsten nur Soldaten kennen - und seine Schmauchwunde. Sein Ohr piept, seine Haut brennt, aber darüber denkt er jetzt nicht nach.
„Ich habe kurz zu ihr geguckt, dann habe ich mich weggeduckt, um mich zu schützen“, sagt Janik. Er sieht noch, wie seine Mitschülerin in den Gang zwischen den Schulbänken schießt. Einen Moment später schaut er vorsichtig aus seiner Deckung. Sieht Panik, sieht verängstigte Mitschüler, die sich unter den Tischen verstecken. „Deckung suchen“ müsste man wohl sagen. Er sieht, wie die 15-Jährige gezielt Schüsse auf zwei Mädchen abgibt. Er weiß zu dem Zeitpunkt nicht, dass die Waffe nicht tödlich ist. Er denkt nicht nach, als er aufspringt. Irgendwas sagt ihm, dass jetzt Zeit zum Handeln ist.
„Ich bin aufgesprungen und habe sie an die Wand gedrückt“, sagt Janik. „Es war einfach ein Reflex, ich habe nicht gedacht“, sagt er. „Ich war ja schon verletzt und wollte nicht, dass noch andere verletzt werden.“ Er drückt das Mädchen, das noch die schwarze Pistole in der Hand hält, an die Wand, wo die Jacken der Schüler an Haken hängen. „Ich habe zu ihr gesagt ,Gib mir die Waffe‘, und sie hat sie mir widerstandslos gegeben“, berichtet der Schüler. „Ich hab’ sie, ich hab’ sie“, brüllt Janik in das Chaos aus fliehenden Schülern. „Ihr könnt wiederkommen.“
Doch keiner hört ihm zu, keiner kommt wieder. Er will die Waffe loswerden. Aber auch die Französischlehrerin ist wie paralysiert. „Das kannst du doch nicht machen“, soll sie gesagt haben, als Janik ihr die Pistole geben will. „Dann bin ich aus dem Raum gerannt. Hauptsache weg von hier“, sagt Janik. Draußen trifft er einen Lehrer, der ihm die Waffe endlich abnimmt. „Alle standen unter Schock, viele hatten Kreislaufprobleme“, erinnert sich Janik. Eine Sekretärin, sagt er, sei völlig zusammengebrochen.
An den Rest erinnert sich der Junge aus Elbingerode, als sei es ein Traum. Wie er einer netten Praktikantin seine Geschichte erzählt, dann den Lehrern, dem Notarzt, der Polizei. Im Krankenhaus in Halberstadt dann die Entwarnung: Das Trommelfell ist wohl nicht dauerhaft geschädigt. In den vergangenen Tagen sprechen ihn Mitschüler auf seine Tat an, auf Facebook werden Lobeshymnen auf ihn verfasst. Wie ist das, ein Held zu sein, Janik? „Ich fühle mich nicht so“, sagt er. Er sei im richtigen Leben eher vorsichtig, arbeite gerne bei der freiwilligen Feuerwehr und der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft mit. Aber Leben retten - das passt schon.
„Über das Verhalten bei Raubüberfällen wird bei uns schon mal gesprochen“, sagt sein Vater Axel Holland, 51. Er arbeitet bei einer Bank in Niedersachsen. Deswegen versucht er, seinen Kindern das Thema nahezubringen. Aber sind solche Gespräche eine gute Vorbereitung auf Schüsse im Unterricht? Vermutlich nicht. „Diesen Fall konnte man gar nicht trainieren, weil der Täter von innen kam“, sagt Peter Hartmann, Leitender Einsatzbeamter vom Dienst im Polizeirevier Harz. Vorbereitet seien die Schulen auf Täter, die von außen angreifen. Dann gebe es zwischen Lehrern und Schülern vereinbarte Warn-Zeichen. Im Falle eines Amoklaufs würden dann die Klassenräume verschlossen. Aber diese Vorbereitung war in Wernigerode nutzlos, da das Mädchen im Unterricht losschoss.
Lob von der Polizei
„Janiks Verhalten war völlig spontan und unüberlegt“, sagt Hartmann. „Aber es war eine mutige Tat, die gut für alle Beteiligten war.“ Dadurch sei die Situation im Klassenraum schnell entschärft worden, und die Polizei habe sofort einen zweiten Täter ausschließen können. „Wir waren froh, dass er so gehandelt hat“, sagt der Beamte. Wie ein ganz normaler Held.

