Die Sicht der Alten Die Sicht der Alten : Christina von Hodenberg forscht in Halle

Halle (Saale) - Nach dem Nobel- und Humboldt-Preisträger Albert Fert forscht mit Christina von Hodenberg erneut eine Humboldt-Preisträgerin an der Universität Halle. Die Historikerin, die seit vergangenem September am Institut für Geschichte ist, arbeitet nun an der ältesten und umfangreichsten auf Tonträgern erhaltenen Sammlung biografischer Interviews, der sogenannten Bolsa-Studie.
Die etwa anderthalb Tonnen schwere Sammlung umfasst Rohdaten in Form von 1000 Akten und 600 Tonbändern der international beachteten Bonner Gerontologischen Längsschnittstudie (Bolsa) aus den 60er bis 80er Jahren.
Diese hat von Hodenberg von Heidelberg nach Halle geholt - nachdem sie, bereits in Halle arbeitend, erfahren hatte, dass sie tatsächlich noch existiert. „Ich fand das natürlich aufregend“, sagt die Wissenschaftlerin. Sonst sei es üblich, dass solches Material nach der Emeritierung des jeweiligen Professors vernichtet werde.
Oder aber überspielt wurde. „Tonbänder waren damals teuer und wurden deshalb oft wiederverwendet“, sagt sie. Im Falle der Bolsa-Studie sei allerdings über den langen Zeitraum von 15 Jahren viel Geld geflossen; in den 80er Jahren habe es auch noch mal Geld gegeben, um das Material zu konservieren. Die Tonbänder, die speziell für Sprachaufnahmen geeignet sind und über Aufnahmedauern zwischen vier und acht Stunden verfügen, sind technisch noch in gutem Zustand. Und glücklicherweise existiert noch ein funktionstüchtiges Abspielgerät für die rund 3600 Stunden Tonaufzeichnungen.
Spannende Daten
Bis zuletzt waren die Tonbändern und Akten der Studie in Besitz eines Wissenschaftlers in Heidelberg, der sich mit Hundertjährigen-Forschung befasst und ein Mitarbeiter eines der damaligen Studienleiter war. „Eigentlich hätten Bonn und Heidelberg das Erstrecht gehabt“, sagt von Hodenberg, die die genauen Gründe, warum die Städte darauf verzichteten, auch nur vermuten könne.
Umso besser aber für Halle: Das Historischen Datenzentrum Sachsen-Anhalt, das 2008 am Institut für Geschichte gegründet wurde, wird die Bänder und Akten digitalisieren und aufbewahren. Dafür will man bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft Geld beantragen. Später soll über ein Internetportal die Recherche in dem Material möglich sein, das dafür anonymisiert werden muss. „Die Daten kann man in vielen wissenschaftlichen Disziplinen verwenden“, sagt von Hodenberg. Es gebe eine Vereinbarung, dass eine Nutzung des Materials wissenschaftlicher Natur sein müsse.
Die Daten seien auch deshalb spannend, weil sie sich nicht um junge Leute drehen, sondern alte Menschen der Geburtsjahrgänge 1890 bis 1895 und 1900 bis 1905 befragt wurden, die bei Beginn der Befragung zwischen 60 und 75 beziehungsweise am Ende zwischen 80 und 95 Jahre alt waren. „Es war die erste gerontologische Längsschnittstudie überhaupt in Deutschland“, sagt die Historikerin, die eigentlich als Professorin an der Queen Mary Universität in London lehrt und forscht.
Gespräche protokolliert
Sie will anhand der Daten herausfinden, ob es wirklich in den 60er Jahren einen Generationenkonflikt gab - und das nicht nur aus der Perspektive junger Menschen beschreiben - und wie es damals in den Familien zuging. „Die Befragten erzählen von ihrer Kindheit und dem gesamten Leben. Insbesondere die Inflation spielte immer wieder eine große Rolle, ebenso wie Vertreibung und Ausgrenzung in Deutschland als Flüchtlinge“, berichtet von Hodenberg.
Die 222 Teilnehmer der Studie seien über die Jahre bis zu acht Mal von dem gleichen Psychologen befragt worden. Ein Leitfaden habe einige Fragen vorgegeben, die offen gestellt wurden. „Es gab die Anweisung, die Leute reden zu lassen“, sagt von Hodenberg.
Neben den Tonbandaufnahmen sind die Gespräche protokolliert und statistisch kodiert worden - das macht die Arbeit mit dem umfangreichen Material etwas leichter. „Damit kann man gezielter nach bestimmten Merkmalen in der Datenbasis suchen“, sagt die 49-jährige Mutter zweier Kinder.
Die Erkenntnisse haben ihrer Ansicht nach Relevanz für die öffentliche Diskussion. „Die öffentliche Wahrnehmung ist zu sehr an den Studenten der 68er-Bewegung festgemacht“, sagt sie. Neben einigen wissenschaftlichen Aufsätzen schreibt sie an einem Buch, das die Geschichte alter Leute in den 60er und 70er Jahren zum Thema haben soll.
Dass sie ihren mit 60.000 Euro finanzierten Forschungsaufenthalt in Halle verbringe, habe damit zu tun, dass die gebürtige Wuppertalerin gern im Osten arbeiten wollte, am Institut für Geschichte auch zu Sozialgeschichte geforscht werde und weil auch am Max-Planck-Institut für Ethnologie in Halle der Austausch mit Fachkollegen möglich sei. „Und ich kann mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren“, sagt sie lobend über die „wunderbare Lebensqualität“ in Halle. (mz)