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Dessau-Waldersee Dessau-Waldersee: Hochgespülte Erinnerungen

Von Alexander Schierholz 17.08.2007, 19:22
Land unter: In manchen Häusern von Dessau-Waldersee stand das Wasser im August 2002 zwei Wochen lang. Insgesamt waren 1000 Haushalte betroffen. (MZ-Foto: Lutz Winkler)
Land unter: In manchen Häusern von Dessau-Waldersee stand das Wasser im August 2002 zwei Wochen lang. Insgesamt waren 1000 Haushalte betroffen. (MZ-Foto: Lutz Winkler) CARDO

Dessau/MZ. - Am Tag, als das Wasser kam, wollten sie eigentlich feiern, ihr Mann Hartmut wurde 39. Heute hat Silke Swientek dafür nur noch Galgenhumor übrig. "Das war der feuchteste Geburtstag, den wir je hatten, ohne dass wir auch nur einen Tropfen getrunken haben."

Silke Swientek, heute selbstständige Friseurin mit kleinem, aber feinem eigenen Salon im schmucken Klinkerhaus, steht an jenem Tag urplötzlich vor den Trümmern ihrer eigenen Existenz - einer Existenz, die noch gar nicht richtig angefangen hat. Gerade erst hat sie gekündigt in ihrem alten Laden, gerade erst haben sie den neuen hergerichtet, den eigenen, endlich. Am 1. September will sie eröffnen, die Möbel stehen noch nicht drin, als das Hochwasser ihren Lebenstraum davonspült.

Fünf Jahre später sitzt Silke Swientek auf der Terrasse, der Blick fällt auf Rasen und Pool, der Salon wartet auf Kunden. Unablässig klingelt das Telefon. "Ich arbeite nur auf Voranmeldung, ich bin zufrieden." Dabei muss die 42-Jährige kürzer treten, die Flut hat Spuren hinterlassen. "Fast jeder im Ort hat gesundheitlich 'was davongetragen. Die Kraft, die ich früher hatte, ist einfach nicht mehr da."

Wehe, es regnet

So wie Silke Swientek geht es vielen in Waldersee. Rein äußerlich ist fünf Jahre danach alles wieder in Ordnung. Etliche Straßen sind saniert, die meisten Häuser strahlen in frischen Farben. "Ohne Flut wäre das in diesem Ausmaß nie passiert", sagt Bärbel Matthey. Ihr und ihrem Mann Ralf ist damals die Gärtnerei weggeschwommen. Auch hier, in Gewächshaus und Verkaufsraum: alles neu.

Das ist die eine Seite. Die andere wird spürbar, wenn es regnet. "Dann ist alles sofort wieder da", schildert Bärbel Matthey die Gefühlslage vieler Walderseer. "Man überlegt sich, wie das wäre, wenn es nochmal passiert, ob man es dann schaffen würde, rein kräftemäßig." Aber eigentlich will die 42-Jährige daran gar nicht denken. Lieber erzählt sie von der überwältigenden Hilfsbereitschaft jener August-Tage. Von Freunden, die mit anpacken. Von der Gruppe Erfurter Studenten, die eine Woche lang das Freigelände säubert "wie eine Ameisenhorde". Vom Kinderarzt ihres Sohnes, der plötzlich in Gummistiefeln vor der Tür steht: "Ich will helfen!"

Die Kraft der Lehrlinge

Dieses Gefühl der Solidarität von damals wollen die Walderseer bewahren. Auch den Neidern zum Trotz, die es den Nachbarn nicht gönnen, dass deren Haus schöner geworden ist als zuvor. "Feindschaften gibt es leider auch, einige wenige", erzählt Christl Trägner, Chefin des Eiscafés "Capri". Die meisten Nachbarn aber hätten bei der Flut eine schon verlorene Gemeinschaft wiederentdeckt. Deshalb feiern sie Straßenfeste und das Waldersee-Fest, wie jedes Jahr am 18. August. "Unser Hochwasser-Überlebensfest", sagt die 58-Jährige. Es gab Momente vor fünf Jahren, da konnte Christl Trägner nicht so zuversichtlich in die Zukunft schauen. Als ihr Café in den braunen schlammigen Fluten absäuft, hat sie "noch fünf Jahre bis zur Rente. Da überlegt man schon, ob man weitermacht". Die resolute Frau macht weiter. Ihrer Lehrlinge wegen. Fünf junge Leute, alle ein Jahr vor der Prüfung zum Hauswirtschafter. "Sie hätten nirgendwo anders eine Stelle bekommen. Also habe ich gefragt: Wollen wir jetzt aufhören?" Die Antwort heißt nein. "Das gibt unheimlich viel Kraft."

Disteln auf dem Deich

Kraft braucht auch Lothar Ehm. Vor fünf Jahren kämpfte er gegen das Wasser, jetzt kämpft er für die Deichpflege. Waldersees Ortsbürgermeister steht unter einem wolkenverhangenen Himmel am Schwedenwall - jenem Teil des rund acht Kilometer langen Ringdeichs, der am 18. August vor fünf Jahren auf 70 Metern Länge brach und die Fluten in den Ort schießen ließ. "Vor vier Wochen", er zeigt auf den mittlerweile sanierten Damm, "standen hier zwei Meter hohe Disteln." Jetzt ist gemäht, aber für Ehm ändert das nichts am Grundproblem. "Mit mangelnder Pflege", sagt der CDU-Politiker, "haben wir es jedes Jahr zu tun."

Warum das ein Risiko ist? "Weil man dicht bewachsene Deiche nur schwer auf ihren Zustand hin kontrollieren kann", antwortet Ehm. Zudem locke üppiger Bewuchs Wühltiere an. Schon der alte Deich sei deswegen total marode gewesen - und schließlich geborsten.

Die längste Schicht

Am Tag des Deichbruchs fängt für Horst Stallbaum die längste Schicht seines Lebens an. Fünf Jahre später steht der Wachmann vor dem Schloss Luisium und sagt trocken: "Hier hab' ich fast zwei Wochen gewohnt." Weil damals Strom und Telefon ausgefallen sind, muss das Luisium bewacht werden. Nicht, dass der 57-Jährige nichts Besseres vorhätte. "Aber als ich nach Wörlitz zur Arbeit gefahren bin, hab' ich schon gedacht, wenn irgendwo ein Deich bricht, kommst du nicht zurück." Für den Notfall im heimischen Pratau hat er Getränke und Konserven gekauft - und die aus einer Eingebung heraus im Auto verstaut.

Also rudert sich der Junggeselle ("Zuhause hat mein Neffe aufgepasst.") samt Vorräten am 18. August selber zum Dienst durch den überfluteten Schlosspark zum Luisium - elf Tage am Stück harrt er dort aus. Seine Nachbarn: eine Rotte schwimmender Wildschweine und Rehe, die sich auf die kleine Insel gerettet haben, zu der der leicht erhöhte Standort des Schlosses geworden ist. Seine Verbindung zur Außenwelt: ein Handy und ein Kofferradio, aus dem Katastrophenmeldung um Katastrophenmeldung schallt. "Da war ich schon nervös", blickt er zurück. "Ich hätte auch lieber Sandsäcke geschleppt. Aber die Arbeit musste ja getan werden."

Gedenken: Ortsbürgermeister Lothar Ehm an dem Stein mit Tafel, der an den Deichbruch am Schwedenwall erinnert. Heute sorgt sich Ehm um die Pflege der neuen Deiche. (MZ-Foto: Andreas Stedtler)
Gedenken: Ortsbürgermeister Lothar Ehm an dem Stein mit Tafel, der an den Deichbruch am Schwedenwall erinnert. Heute sorgt sich Ehm um die Pflege der neuen Deiche. (MZ-Foto: Andreas Stedtler)
CARDO