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DDR-Jugendgefängnisse DDR-Jugendgefängnisse: Die verstoßenen Kinder

Von Oliver Schröter 12.09.2004, 18:18

Dessau/MZ. - Rainer Wagner erzählt aus einer dunklen Zeit seines Lebens. Der 52-jährige Diplom-Religionspädagoge wohnt heute in Neustadt an der Weinstraße (Rheinland-Pfalz). Zwei entscheidende Jahre seiner Jugend hat er in Dessau verbracht. Von 1967 an war er Insasse des so genannten Jugendhauses. Die heutige Justizvollzugsanstalt galt wie das Jugendhaus in Halle als berüchtigtes Jugendgefängnis der DDR. Heute engagiert Wagner sich in der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft.

In Dessau wie in Halle wurden 14- bis 18-jährige Straffällige untergebracht, die wegen der Schwere ihrer Tat nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt wurden. Das waren nach Ansicht der DDR-Führung nicht nur Räuber, Vergewaltiger oder Diebe. "Mehr als 25 Prozent saßen wegen Passvergehen oder waren Mischtäter", berichtet Wagner. Als Mischtäter bezeichnet er Kriminelle, die sich nach einem Vergehen durch Republikflucht der Strafverfolgung entziehen wollten. Er selbst kam wegen "versuchtem gewaltsamem Grenzdurchbruchs" nach Dessau. Er war damals als 15-jähriger Bäckerlehrling mit einer Kneifzange in der Tasche aufgegriffen worden - 500 Meter vor der Grenze bei Eisenach.

Über die Untersuchungshaft in Gotha und Naumburg gelangte er nach Dessau. Schon vor dem Wechsel in die Muldestadt ahnte er nach Berichten von Mithäftlingen, was auf ihn zukam. "Ein bisschen flau war es mir schon im Magen, als es nach Dessau ging", erinnert Wagner sich. "Wenn ich an all die Berichte über das brutale Verhalten

der Erzieher in Dessau dachte, habe ich mir schon Sorgen gemacht. Und dann war es noch schlimmer als alles, was ich vorher gehört hatte." Was dort geschah, hieß unter anderem "Selbsterziehung". Wurden alle Insassen einer Zelle wegen des Fehlers eines Einzelnen bestraft, musste der mit der Rache der Mithäftlinge rechnen. Ein System, das bewusst gefördert wurde.

Wer trotzdem aus der Reihe tanzte, kam unter Arrest. Das bedeutete drei Scheiben Brot und einen halben Liter Kaffee-Ersatz sowie alle drei Tage einen halben Liter dünner Suppe. Setzte oder legte sich der Arrestant auf den Boden, musste er mit Arrestverlängerung oder Schlägen mit dem Gummiknüppel rechnen, erzählt Wagner. Nur zwischen 22 Uhr und 5 Uhr konnte er auf einem Brett schlafen. Etliche Häftlinge versuchten diesem grausamen Alltag auf Zeit zu entgehen, indem sie Löffel verschluckten und so ins Krankenhaus gelangten.

Dass Übergriffe des Personals im Jugendhaus zum Alltag gehörten, bestätigen Aussagen von Mitarbeitern. So berichtet Uwe Gruber, der ab 1983 im Dessauer Jugendhaus arbeitete: "Wer behauptet, es wurde nicht geschlagen, der lügt." Gruber kommt in einem Film zu Wort, der die Geschichte des Jugendhauses schildert. Schikane und militärischer Drill, so Gruber, gehörten zum Alltag.

Viele Insassen versuchten nach ihrer Zeit in einem der Jugendhäuser jahrelang mit psychotherapeutischer Hilfe, Erlebtes zu verarbeiten. Rainer Broäter, von 1969 bis 1972 in Dessau, beschreibt das so: "Da saßen Dinge in mir fest, die sich nicht mehr vertreiben ließen. Es war, als wäre etwas kaputt. Dessau war das Grab meiner Jugend."