Saale-Unstrut-Verein Saale-Unstrut-Verein: Reliquien im Christuskopf

Naumburg - Wenige Tage, bevor die Bewerbung der mittelalterlichen Saale-Unstrut-Kulturlandschaft um Aufnahme in das Unesco-Welterbe im Februar in die heiße Phase ging, fand im Naumburger Dom in aller Stille ein besonderes Ereignis statt. Am 9. Januar wurde am Westlettner der Schädel des gekreuzigten Jesus geöffnet. In der Hirnschale der vom Naumburger Meister geschaffenen, steinernen Figur - so bestätigte sich danach - befinden sich drei aus dem 13. Jahrhundert stammende Reliquien: ein Stück des Schweißtuches Christi, Überreste der Naumburger Stifts- und römischen Stadtpatrone Petrus und Paulus sowie des Apostels Bartholomäus. Der dreiteilige Reliquienbestand lagerte in einem runden, in eine Vertiefung der Hirnschale eingepassten Bleigefäß. Sein Zustand war sehr gut.
Über die Öffnung des Sepul-crums, die unter Leitung des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt vorgenommen wurde, und deren Ergebnisse berichtet der Naumburger Historiker und Domstiftsarchivar Matthias Ludwig im neuen Saale-Unstrut-Jahrbuch, das soeben erschienen ist. Herausgegeben wurde es vom Saale-Unstrut-Verein für Kulturgeschichte und Naturkunde. Bereits im 24. Jahrgang setzt das 2019er-Heft damit die schöne Tradition der Veröffentlichung von Beiträgen zur Kulturgeschichte und Naturkunde der Saale-Unstrut-Region fort. Die Redaktion der 150 Seiten umfassenden Publikation übernahmen Matthias Ludwig, Henry Mill, Torsten Pietsch, Reinhard Schmitt und Guido Siebert. Die Gesamtherstellung oblag dem Mitteldeutschen Verlag Halle.
In seinem Bericht über den Reliquienfund im Christushaupt des Westlettners des Naumburger Doms geht Matthias Ludwig auch auf dessen Vorgeschichte ein. So hatte der Architekt Karl Memminger, der maßgeblich an der zwischen 1874 und 1895 erfolgten Gesamtrestaurierung des Naumburger Doms beteiligt war, in einem 1910 veröffentlichten Buch die drei Reliquien erwähnt. Allerdings ließ er offen, ob sie damals gänzlich aus dem Schädel entfernt oder lediglich begutachtet worden waren. Ein zweiter Bericht, der im Zusammenhang mit den von 1969 bis 1976 im Dom erfolgten Instandsetzungsarbeiten verfasst wurde und der nur durch einen Hinweis in einem Buch des früheren Domdechanten Ernst Schubert bekannt ist, ließ vermuten, dass sich die Reliquien noch an dem einst für sie bestimmten Platz befanden. Die neuerliche Öffnung des Christuskopfes brachte nun endgültige Klarheit.
„Der Befund deutet auf einen vollständig erhaltenen dreiteiligen Reliquienbestand aus der Mitte des 13. Jahrhunderts hin, der im Zusammenhang mit der Vollendung des Westlettners kurz vor 1250 in das Christushaupt eingelegt worden ist“, schreibt Matthias Ludwig. Woher die Reliquien stammen, ist allerdings unklar. Da sich in dem Reliquienbündel ein Rest des berühmten Schweißtuches Jesu, das damals besonders verehrt wurde, oder zumindest einer im 13. Jahrhundert angefertigten Kopie befindet, schlussfolgert Ludwig: „Die Bauherren mussten die Existenz des Schweißtuches voraussetzen, als sie den Auftrag für den Westlettner erteilten, sei es, dass dessen Erwerb sicher bevorstand oder, was wahrscheinlicher ist, dass es bereits in Naumburg angekommen war, und zwar gemeinsam mit den Reliquien.“
Mit seinem Aufsatz lüftet Matthias Ludwig nicht nur eines der Geheimnisse des Naumburger Doms, er reiht sich außerdem ein in die Beiträge zum Thema Aufnahme des Naumburger Doms in das Unesco-Welterbe, die im 2019er-Jahrbuch den Schwerpunkt bilden. Nach dem eher nachrichtlich gehaltenen Rückblick „Uta in Arabien“ von Holger Kunde, Direktor und Stiftskustos der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz, der die beiden Kriterien „Meisterwerk menschlicher Schöpferkraft“ und „Bedeutender Schnittpunkt menschlicher Werte in Bezug auf die Entwicklung der Architektur oder Technik“ für die Aufnahme des Doms in das Welterbe benennt, blickt Guido Siebert in die Werkstatt des Naumburger Meisters: Woraus resultieren deren Virtuosität und die anverwandelte Nachahmung? Siebert, Steinmetz und Kunsthistoriker, geht davon aus, dass es sich beim unbekannt gebliebenen Naumburger Meister um einen magister operis, einen Werkmeister, handeln könnte. Er fragt: „Hat es möglicherweise an der Baustelle des Westchores um 1250 einen solchen magister operis/architectus gegeben, der die Oberaufsicht innehatte, ohne selbst Hand anzulegen, und den wir in unserem heutigen Verständnis als ’Naumburger Meister’ ansprechen, der jedoch mit der Ausführung der Skulpturen gar nichts zu tun hatte? Dann gäbe es sie doch nicht, die Personalunion von Architekt und Bildhauer. Dann hätten wir es mit einer Naumburger Werkstatt innerhalb der Naumburger Werkstatt zu tun - einer Gruppe von Bildhauern unter der Leitung eines besonders befähigten artifex, die neben einer Gruppe von Steinmetzen und möglicherweise auch neben einer Gruppe von Laubhauern am Westchor für das Naumburger Domkapitel tätig war.“ In einem dem Aufsatz beigegebenen Schaubild stellt Siebert diese Komplexität dar.
Interessant in diesem Zusammenhang sind ebenso die beiden Wächterfiguren des Passionsreliefs des Westlettners, die gegenüber den anderen Figuren deutlich abfallen. Siebert: „Ein bemerkenswerter Unterschied besteht auch in der Gestaltung der Oberflächen. Insbesondere jene der Gewänder erscheinen extrem grob, unfertig und deuten auf unerfahrene Bildhauer hin.“ Eine der möglichen Erklärungen für diese „Unfertigkeit“ könnte die Auflösung der Naumburger Werkstatt sein, da sie zum nächsten Arbeitsort ziehen musste. „Denkbar wäre damit eine Vorbereitung der Figuren durch Hilfskräfte der Bildhauerwerkstatt für die Vollendung durch erfahrene Kräfte beziehungsweise Meister, die nicht mehr stattgefunden hat“, schreibt Guido Siebert.
Im sich anschließenden Bericht von Maria Deiters aus der Restaurierungswerkstatt werden das Erfassen und die Erforschung der wertvollen mittelalterlichen Glasmalereien des Naumburger Doms durch das Corpus Vitrearum Medii Aevi vorgestellt. Die Kunsthistorikerin und Arbeitsstellenleiterin zur Erforschung des Gesamtwerkes der Glasmalerei des Mittelalters erläutert die Arbeiten zur Konservierung, Restaurierung und Rekonstruktion sämtlicher Glasmalereien des Westchores. Dazu haben die Vereinigten Domstifter ein umfangreiches Projekt mit einer eigenen Glaswerkstatt gestartet.
Im letzten Beitrag, der dem Naumburger Dom im 2019er-Jahrbuch gewidmet ist, untersucht Heiko Brandl den spätromanischen Dombau auf der Grundlage des aktuellen Dominventars. Brandl, Kunsthistoriker und tätig in der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, betrachtet die ungewöhnlichen architektonischen Sonderformen und benennt neue Aspekte zur Baugeschichte des Doms. Sie stellen die Vorstellung einer einst existierenden Nordklausur in Frage.
Weit in die Verästelungen der mit Personen und Familien verbundenen Historie steigt Maria Dietl-Beissel hinab in ihrem Betrag zur Geschichte des Großjenaer Rittergutes. Es beeindruckt, mit welcher Akribie die Eigentümerin des Großjenaer Gutshauses den einzelnen familiären Linien nachspürt, die mit ihm verbunden sind und die bis zu Christoph Wilhelm Loss führen. Ein weiterer Teil, der die neuere Historie des einstigen Rittergutes zum Inhalt hat, soll offenbar im nächsten Jahrbuch folgen. Nicht minder spannend lesen sich die „Geschichten einer Verwechslung“, die Andrei Zahn über die Prießnitz-Orte aufgeschrieben hat. Ist das Geschehen der Oktobertage des Jahres 1806, an das bis in die Gegenwart mit dem Prießnitzer Brandfest erinnert wird, weitgehend bekannt, so erfährt der Leser vieles Neue über die Ursprünge und Geschichte umliegender Orte, die Prießnitz im Namen führen, so etwa Frauenprießnitz, oder namensverwandt sind.
Die kulturgeschichtlichen Beiträge des Heftes widmen sich der Erhaltung von Burgen, Schlössern und Residenzen als Landes- und Lebensaufgabe von Kristine Glatzel. Zu nennen sind neben der Neuenburg oder der Burg Querfurt auch Monumente außerhalb des Saale-Unstrut-Gebietes wie die Schwarzburg in Thüringen.
Ein weiterer, ausführlicher Aufsatz ist dem Künstlerpaar Ina und Friedrich Paul Oskar Hoßfeld gewidmet, das mit Kunst und Architektur das Stadtbild Naumburgs geprägt hat. Nicht unerwähnt lässt Wolfgang Lührs dabei die von Ina Hoßfeld geschaffene Plastik der Quellnymphe auf dem Lindenring und die Winzerfigur, die sich an einem Haus in der Marienstraße befindet. Für den Leser und Betrachter aufgrund der eigenwilligen Bildsprache überraschend erscheinen dagegen die von der Künstlerin für die Weißenfelser Lutherkirche gestalteten Glasfenster.
In Fortsetzung der Beiträge des Saale-Unstrut-Jahrbuches zu wertgebenden und charakteristischen Arten des Saale-Unstrut-Gebietes porträtiert Torsten Pietsch die Europäische Gottesanbeterin als charismatische Fangschrecke und grazile Jägerin, die sich im Verborgenen aufhält.
Ein weiterer Aufsatz in der Rubrik der naturkundlichen Beiträge beschäftigt sich mit einer Postkarte, die der Naturforscher Ernst Haeckel (1834-1919) im Jahr 1918 an Helene Rossner schrieb, die in Zeitz lebte. Michael Unruh, Diplom-Biologe aus Großosida, nimmt die Karte zum Anlass, um Haeckels Wirken unter verschiedenen Aspekten zu betrachten, so Haeckel und der Erste Weltkrieg, Haeckel als Darwinist, Haeckel und der Monismus, Haeckel und der Beginn der autoritären Biologie sowie Haeckels Schüler.
Die Wahl des besonderen Kunstwerks, das jeweils im Jahrbuch vorgestellt wird, fiel auf das Rundepitaph des Pfarrers Johann Sider aus der Naumburger Wenzelskirche. Guido Siebert stellt es vor. Es ist zugleich eines der zahlreichen Kunstwerke, deren Rettung Sigurd Susch zu verdanken ist, der für seine langjährige ehrenamtliche Arbeit als Kunstgutbeauftragter des Kirchenkreises Naumburg-Zeitz 2017 mit dem Veldeke-Preis des Saale-Unstrut-Vereins geehrt wurde.